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Das war genau die Art Frage, wie man sie aus Filmen kannte: eine Mrs.-Robinson-Frage, während der arme Benjamin in Gedanken immer noch mit Nichtigkeiten beschäftigt war. Und Dellen Kerne war ein Mrs.-Robinson-Typ, kein Zweifel. Sie war zugegebenermaßen ein bisschen aus dem Leim gegangen, aber auf eine üppige Art und Weise. Sie hatte die Kurven, die man bei jüngeren Frauen nie sah, die davon besessen waren, wie Models auszusehen, und mochte ihre Haut auch von zu viel Sonne und Nikotin gefurcht sein, machte die Flut blonder Haare das doch wett. Genau wie ihr Mund, dessen Lippen so voll waren, als wären sie aufgespritzt.

Cadan reagierte auf sie. Es kam ganz unwillkürlich. Er war zu lange enthaltsam gewesen, und jetzt strömte auf einmal zu viel Blut in die falsche Richtung. Er stammelte: »Ich war… ich meine… ich wollte… Thunfisch und Mais.«

Sie schürzte die vollen Lippen. »Ich denke, das bekommen wir hin.«

Ihm wurde vage bewusst, dass Pooh sich rastlos auf seiner Schulter bewegte, die Klauen ein bisschen zu tief in sein Fleisch grub. Er musste den Vogel loswerden, aber er wollte ihn ungern auf eine Stuhllehne setzen, denn wenn er von Cadans Schulter genommen wurde, verstand er das gern als Aufforderung, eine Ladung abzusetzen. Cadan schaute sich nach einer Zeitung um, die er für den Fall der Fälle unter den Stuhl legen konnte. Eine ältere Ausgabe des Watchman lag auf der Anrichte. »Darf ich?«, fragte er Dellen. »Ich muss Pooh absetzen, und wenn ich die hier auf den Boden legen könnte…«

Sie war im Begriff, eine Dose zu öffnen. »Für den Vogel? Ja, sicher.« Und als er das Zeitungspapier ausgebreitet und Pooh auf der Stuhllehne postiert hatte, fügte sie hinzu: »Ein ungewöhnliches Haustier.«

Cadan glaubte nicht, dass sie eine Antwort erwartete, aber er sagte dennoch: »Papageien können achtzig Jahre alt werden.« Die Antwort schien alles zu sagen: Ein Haustier, das achtzig Jahre alt wurde, ließ einen nie allein. Und es bedurfte keines Psychologen, um zu ergründen, was das über den Halter verriet.

»Ja«, erwiderte Dellen. »Achtzig. Ich verstehe.« Sie warf ihm einen Blick zu, und ihre Mundwinkel bebten, als sie lächelte. »Ich hoffe, er wird wirklich so alt. Das schaffen nicht alle…«

Er senkte den Blick. »Das mit Santo tut mir leid.«

»Danke.« Sie hielt inne. »Ich kann noch nicht über ihn sprechen. Ich denke die ganze Zeit, wenn ich einfach weitermache oder auch nur versuche, mich abzulenken, muss ich mich seinem Tod noch nicht stellen. Ich weiß, das funktioniert so nicht, aber ich bin nicht… Wie soll man je dafür bereit sein, dem Tod des eigenen Kindes ins Auge zu sehen?« Hastig streckte sie die Hand aus und stellte das Radio lauter. Sie fing an, sich im Takt der Musik zu wiegen. »Tanzen wir, Cadan?«

Es war irgendein Latinorhythmus, Tango, Rumba oder so etwas in der Art. Er lud geradezu dazu ein, zwei Körper in sinnlicher Bewegung zu vereinen, aber Cadan wollte unter keinen Umständen einer davon sein. Doch sie tanzte bereits durch die Küche auf ihn zu, wiegte die Hüften bei jedem Schritt, schob erst die eine Schulter vor, dann die andere, und hielt die Hände ausgestreckt.

Cadan sah, dass sie weinte. So wie Schauspielerinnen im Film weinen: keine Rötung im Gesicht, keine verzerrten Züge, einfach nur Tränen, die ihr aus diesen bemerkenswert blauen Augen über die Wangen rollten. Sie tanzte und weinte gleichzeitig. Mit einem Mal empfand er Mitgefühl für sie. Sie war die Mutter eines Sohnes, der ermordet worden war… Wer wollte ihr vorschreiben, wie diese Frau zu reagieren hatte? Wenn sie reden wollte oder wenn sie tanzen wollte was machte das schon? Sie ging so gut damit um, wie sie eben konnte.

»Tanz mit mir, Cadan«, bat sie. »Bitte, tanz mit mir.«

Er nahm sie in die Arme.

Augenblicklich presste sie sich an ihn, sodass jede Bewegung zur Liebkosung wurde. Er kannte die Tanzschritte nicht, aber das war gleichgültig. Sie schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn ganz nah an sich heran, eine Hand auf seinem Hinterkopf. Als sie ihm ihr Gesicht zuwandte, passierte der Rest ganz automatisch. Seine Lippen fanden die ihren, seine Hände glitten von ihren Hüften zu ihrem Gesäß hinab, und er drückte sie noch ein wenig fester an sich.

Sie erhob keine Einwände.

14

Die Identifizierung der Leiche war nur mehr Routine. Obwohl Ben Kerne das sehr wohl gewusst hatte, erlebte er doch einen Moment lächerlicher Hoffnung, dass es sich um einen schrecklichen Irrtum handeln könnte. Dass trotz des Wagens, den die Polizei schließlich gefunden hatte, und trotz der Ausweispapiere in ebendiesem Wagen der tote Junge, der am Fuß der Klippe von Polcare Cove gefunden worden war, jemand anderes als Alexander Kerne wäre. Doch diese Wunschvorstellung löste sich in nichts auf, als er Santo ins Gesicht blickte.

Ben war allein nach Truro gefahren. Er war zu dem Schluss gekommen, dass es keinen Grund gab, Dellen dem Anblick ihres obduzierten Sohnes auszusetzen, zumal Ben keine Vorstellung hatte, in welchem Zustand der Leichnam sein würde. Dass Santo tot war, war schrecklich genug. Dass Dellen irgendetwas davon sehen sollte, was seinen Tod herbeigeführt hatte, war undenkbar. Doch als er Santo nun sah, erkannte Ben, dass es weitgehend unnötig gewesen war, Dellen schützen zu wollen. Santos Gesicht war mit Make-up hergerichtet worden. Über seinen Körper, der zweifellos gründlich seziert und untersucht worden war, war ein Laken drapiert. Ben hätte verlangen können, dass man ihn alles sehen ließe, damit er jeden Zoll von Santo betrachten könnte, wie er ihn seit frühester Kindheit nicht mehr betrachtet hatte. Doch er hatte darauf verzichtet. Es wäre ihm wie eine Verletzung der Intimsphäre des Jungen vorgekommen.

Auf die förmliche Frage: »Ist dies Alexander Kerne?«, hatte Ben genickt. Dann hatte er die Papiere unterschrieben, die man ihm vorgelegt hatte, und gelauscht, was diverse Menschen ihm über polizeiliche Untersuchungen, Bestattungsunternehmen, Beerdigungen und so weiter zu sagen hatten. Er empfand nichts, während all dies vonstatten ging, erst recht nicht bei den Beileidsbekundungen. Sie waren tatsächlich mitfühlend, all diese Menschen, mit denen er im Royal Cornwall Hospital in Kontakt kam. Sie hatten das schon tausendmal absolviert, vielleicht sogar noch öfter, aber diese Tatsache hinderte sie nicht daran, immer noch an dem Schmerz eines anderen Menschen anteil zu nehmen.

Als er schließlich aus dem Krankenhausgebäude trat, stürzten die Gefühle umso gewaltiger auf ihn ein. Vielleicht war es der leichte Regen, der seinen dünnen Schutzpanzer aufweichte, denn als er über den Parkplatz zu seinem Austin hinüberging, überkamen ihn Trauer — ob des gewaltigen Ausmaßes ihres Verlustes und Schuldgefühle ob der Rolle, die er dabei gespielt hatte. Und dann das Wissen, mit dem er fortan leben musste: Seine letzten Worte an Santo waren so ablehnend gewesen, und diese Ablehnung war doch nur seiner eigenen Unfähigkeit geschuldet, den Jungen so zu akzeptieren, wie er war. Diese Unfähigkeit wiederum rührte von einem Verdacht her, den er nicht auszusprechen wagte.

Warum begreifst du nicht, was andere bei dem empfinden, was du tust?, hatte Ben ihn immer wieder gefragt — der ewige Refrain im Lied ihrer Beziehung, das sie jahrelang gesungen hatten. Herrgott noch mal, Santo, diese Menschen sind real.

Du tust ganz so, als würde ich irgendjemanden ausnutzen. Als würde ich allen meinen Willen aufzwingen. Aber so ist es nicht. Außerdem sagst du niemals auch nur ein einziges Wort, wenn…

Komm mir ja nicht damit, verstanden?

Hör mal, Dad, wenn ich nur…

Ja, genau das ist es. Es geht immer nur um das eine: ich, ich und ich. Aber jetzt wollen wir mal eines klarstellen: Das Leben dreht sich nicht ausschließlich um dich. Was wir hier aufbauen beispielsweise hat nicht nur mit dir zu tun. Was du denkst und willst, interessiert mich nicht. Aber was du tust. Hier und anderswo. Ist das klar?