So vieles war unausgesprochen geblieben. Vor allem Bens Ängste. Aber wie hätte er sie auch zum Ausdruck bringen können, wenn doch alles, was mit diesen Ängsten zusammenhing, unter den Teppich gekehrt wurde?
Nicht jedoch heute. Das Heute, dieser Moment, verlangte ein Anerkennen der Vergangenheit, die ihn hierhergeführt hatte. Und so kam es, als Ben in den Wagen stieg und aus Truro herausfuhr, um den Weg nach Norden in Richtung Casvelyn einzuschlagen, dass er an dem Schild nach St. Ives abbremste und noch während er darauf wartete, dass sein verschwommener Blick sich klärte, unwillkürlich entschied, nach Westen abzubiegen.
Er gelangte auf die A30, die Hauptschlagader der Nordküste, und fuhr gen Süden. Er hatte keine klare Vorstellung, doch sowie die Hinweisschilder immer vertrauter wurden, nahm er wie auf Autopilot die richtigen Abzweigungen und fuhr zur Küste hinab durch eine schroffe Landschaft, deren Charakter von Granitfelsen geprägt war. Auf den ersten Blick wirkte sie abweisend, doch ihr Inneres war reich an Mineralerzen. In diesem Teil des Landes ragten verfallene Maschinenhäuser als stumme Zeugen jener Generationen von Männern aus Cornwall auf, die unter Tage gearbeitet hatten. Zinn und Kupfer hatten sie gefördert, bis die Adern erschöpft waren und die Minen Wind und Wetter überlassen wurden.
Entlegene Dörfer hatten die Bergarbeiter beherbergt und sich selbst neu definieren oder aber aussterben müssen, als der Minenbetrieb eingestellt wurde. Das Land eignete sich nicht zum Ackerbau, war zu steinig und karg und so anhaltend von stürmischen Winden heimgesucht, dass nur Ginsterdickicht und die widerstandsfähigsten Kräuter und Wildblumen hier überleben konnten. Darum hatten die Menschen sich Rinder oder Schafe zugelegt, soweit sie sich eine Herde leisten konnten, und wenn die Zeiten schlecht waren, hielten sie sich mit Schmuggel über Wasser.
Cornwalls unzählige Buchten waren Hochburgen des Schmuggels gewesen. Wer in diesem Geschäft erfolgreich war, kannte die See und die Gezeiten. Aber im Laufe der Zeit etablierten sich andere Einnahmequellen. Die Verkehrsanbindungen in den Südwesten wurden besser und brachten Touristen: etwa die Sommergäste, die sich am Strand sonnten und dem Zickzack der Wanderwege folgten. Und schließlich die Surfer.
Als Ben Pengelly Cove erreichte, sah er von oben auf die Bucht hinab, wo der Ortskern des Dorfes lag, Häuser aus unverputztem Granit mit Schieferdächern, die im nassen Frühlingswetter abweisend und verlassen wirkten. Es gab lediglich drei Straßen: zwei, die von Geschäften, Häusern, zwei Pubs und einer Pension namens Curlew Inn gesäumt waren, und eine dritte, die steil bergab an einem kleinen Parkplatz und einer Rettungsstation vorbei direkt zur See führte.
Draußen auf dem Wasser nahmen es die Surfer mit Wind und Wetter auf. Die Dünung kam in gleichmäßigem Rhythmus von Nordwesten, und die grauen Wellen bildeten jene Barrels, für die Pengelly Cove berühmt war. Die Surfer verschwanden darin oder schossen diagonal über die Vorderseite einer Welle, stiegen zu ihrem Kamm auf und verschwanden dahinter, ehe sie erneut hinauspaddelten und auf die nächste Welle warteten. Niemand machte sich die Mühe, eine Welle bis zum Strand zu reiten, nicht bei diesem Wetter und bei diesen Wellen, die einander glichen wie Spiegelbilder und in gleichmäßigen Abständen an dem Riff etwa hundert Meter von der Küste entfernt brachen. Die Strandwellen waren nur etwas für die blutigen Anfänger niedriges Gewoge aus weißem Wasser, die den Novizen ein Erfolgserlebnis, aber keine Anerkennung bescherten.
Ben fuhr weiter zur Bucht hinab. Er ließ den Wagen vor dem Curlew Inn stehen und ging zu Fuß zur Kreuzung zurück. Das Wetter war ihm egal. Er trug die geeignete Kleidung dafür, und er wollte die Bucht erleben, wie er sie aus seiner Jugend kannte. Damals hatte es nur einen Fußweg nach unten und noch keinen Parkplatz gegeben. Nichts bis auf das Wasser, den Sand und die tiefen Höhlen hatten ihn begrüßt, wann immer er hier herunter kam, das Surfboard unter den Arm geklemmt.
Er hatte vorgehabt, die Höhlen aufzusuchen, aber das Wasser stand zu hoch, und er wusste besser als jeder andere: Er konnte es nicht riskieren. Stattdessen sah er sich nun um und nahm konzentriert die Veränderungen in sich auf, die sich seit seinem letzten Besuch hier vollzogen hatten.
Geld war in diese Gegend geflossen. Das sah man an den Sommerhäusern und Wochenendcottages, die die Bucht überblickten. Früher hatte es nur ein einziges Haus dort oben gegeben weit draußen am Ende der Klippe: ein beeindruckender Granitbau, dessen leuchtend weiße Fassade, schwarze Regenrohre und Verzierungen von mehr Geld sprachen, als irgendjemand hier im Ort je besessen hatte. Inzwischen gab es mindestens ein Dutzend von dieser Sorte, wenngleich Cliff House so stolz wie eh und je alle anderen überragte. Er war nur einmal in diesem Haus gewesen, anlässlich einer Party, die die Parsons ausgerichtet hatten — die Familie, die fünf Sommer in Folge darin gewohnt hatte. »Eine Feier für unseren Jamie, ehe er zur Universität geht.« So hatten sie die Festivität betitelt.
Niemand im Dorf hatte Jamie Parsons leiden können. Er hatte sich nach der Schule ein ganzes Jahr Auszeit gegönnt und war um die Welt gereist und hatte nicht genug Verstand besessen, darüber den Mund zu halten. Und doch waren sie alle gewillt gewesen, Jamie Parsons ihren besten Kumpel oder sogar die Wiedergeburt Christi zu nennen, wenn sie dafür nur die Chance bekamen, einen Abend in diesem Haus zu verbringen.
Natürlich mussten sie dabei cool wirken. Ben erinnerte sich noch genau. Sie mussten aussehen wie Kids, die solche Partys andauernd erlebten: eine Spätsommernacht, eine Einladung, die mit der Post verschickt worden war — kann man sich das vorstellen? Eine Rockband, die eigens aus Newquay herüberkam, um aufzutreten. Lange Tische voller Köstlichkeiten, Lightshow über der Tanzfläche und überall im Haus Verstecke, wo man alles nur Denkbare anstellen konnte, ohne dass es irgendjemand herausbekam. Mindestens zwei der Parsons-Kinder waren da gewesen waren es insgesamt vier oder fünf?, nicht aber die Eltern. Bier jeder nur vorstellbaren Marke, und dazu die verbotenen Schätze: Whiskey, Wodka, Rum-Cola, Tabletten, über deren Zusammensetzung niemand Genaueres wusste und Cannabis. Kistenweise Cannabis, so schien es. Kokain auch? Ben wusste es nicht mehr.
Woran er sich aber erinnerte, war das Gerede. Es war ihm unvergesslich geblieben: wegen des Surfens in jenem Sommer und dem, wozu das Surfen geführt hatte.
Die große Kluft. Sie existierte überall dort, wo Menschen für einen begrenzten Zeitraum hinkamen, aber nicht geboren und ansässig waren. Es gab die Einheimischen und die Eindringlinge. Das galt ganz besonders für Cornwall, wo es einerseits diejenigen gab, die sich abmühten und schufteten, um sich einen bescheidenen Lebensunterhalt zu verdienen, und all jene andererseits, die herkamen, um ihre Ferien und ihr Geld zu verjubeln und die Annehmlichkeiten des Südwestens zu genießen. Die Hauptattraktion war die Küste mit ihrem herrlichen Wetter, den makellosen Stränden und ihren schroffen, hohen Klippen. Die größte Verlockung jedoch war das Wasser.
Die Einheimischen kannten die Regeln. Jeder, der regelmäßig surfte, kannte die Regeln, und sie waren simpeclass="underline" Warte, bis du an der Reihe bist. Mogle dich nicht vor. Schnapp dir nicht die Welle eines anderen. Mach den erfahreneren Surfern Platz. Respektiere die Hierarchie. Die Brandung gehört den Anfängern mit ihren breiten Boards, den Kindern, die im Flachwasser spielen, und manchmal den Kneeboardern und Bodyboardern, die für ihre Mühen einen schnellen Kick wollen. Jeder, der jenseits der Linie surfte, wo die Wellen brachen, blieb draußen, bis er Feierabend machen wollte, sprang ansonsten vom Board oder fuhr über die Rückseite den Wellenkamm hinab, um wieder nach draußen zu paddeln, lange bevor er dorthin gelangte, wo sich die Anfänger aufhielten. So einfach war es. Ungeschriebene Gesetze, aber Unwissenheit war immer eine schlechte Rechtfertigung.
Niemand wusste, ob Jamie Parsons aus Unwissenheit handelte oder Gleichgültigkeit. Was sie hingegen alle ganz genau wussten, war, dass Jamie Parsons meinte, gewisse Vorrechte zu haben. Und er betrachtete sie als solche: als Rechte und nicht als das, was sie in Wirklichkeit waren, nämlich unverzeihliche Regelverstöße.