»Sie wollen mir weismachen, Sie hätten als Kind wirklich eine Gouvernante gehabt? Eine arme Jane Eyre ohne ihren Mr. Rochester, um sie aus ihrem Untergebenendasein zu erlösen — die immer allein in ihrem Zimmer essen musste, weil sie weder zur Herrschaft noch zum Personal gehörte?«
»Ganz so schlimm war es nicht. Sie hat mit uns gegessen. Mit der Familie. Vorher hatten wir ein Kindermädchen, aber später, als wir im Schulalter waren, kam die Gouvernante für meine ältere Schwester und mich. Bis mein Bruder zur Welt kam. Er ist zehn Jahre jünger als ich. Da wurde all das abgeschafft.«
»Es ist so… so hinreißend antiquiert.«
Lynley hörte das Lächeln in Daidres Stimme. »Das können Sie laut sagen. Aber es hieß: entweder das, ein Internat oder mit den Nachbarskindern die Dorfschule besuchen.«
»Mit ihrem fürchterlichen Cornwall-Akzent«, bemerkte Daidre.
»Genau. Mein Vater war felsenfest entschlossen, dass wir in seine Bildungsfußstapfen treten sollten, und die führten nun mal nicht zur Dorfschule. Gleichermaßen entschlossen war meine Mutter, dass wir nicht mit sieben Jahren ins Internat gesteckt werden sollten…«
»Kluge Frau.«
»… also war die Gouvernante die Kompromisslösung, bis wir sie beinahe um den Verstand gebracht und vergrault hatten. Danach kamen wir dann doch auf die Schule im Ort. Genau das war es, was wir beide gewollt hatten. Aber ich bin sicher, mein Vater hat Tag für Tag unseren Akzent überprüft. So schien es jedenfalls. Gott verhüte, dass wir jemals vulgär klingen könnten.«
»Lebt Ihr Vater noch?«
»Nein, er ist schon seit vielen Jahren tot.« Lynley gestattete sich, ihr einen Blick zuzuwerfen. Sie musterte ihn, und er überlegte, ob sie über das Thema "Schulbildung" und die Frage nachdachte, warum sie darüber sprachen.
»Wie war das bei Ihnen?«, fragte er und versuchte, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. Aber ihm war nicht wohl in seiner Haut. In der Vergangenheit hatte es ihm nie Probleme bereitet, einen Verdächtigen in die Falle zu locken.
»Meine Eltern sind beide noch am Leben und wohlauf.«
»Ich meinte die Schule.«
»Oh. Die völlig normale, langweilige Laufbahn, fürchte ich.«
»Also in Falmouth?«
»Ja. In meiner Familie wurden die Kinder nicht ins Internat abgeschoben. Das stand niemals zur Debatte. Ich bin im Ort zur Schule gegangen, zusammen mit dem Pöbel.«
Er hatte sie erwischt. Dies war der Moment, da Lynley die Falle normalerweise hätte zuschnappen lassen. Aber er wusste, es war möglich, dass er eine Schule übersehen hatte. Vielleicht hatte sie eine besucht, die inzwischen geschlossen war. Irgendwie verspürte er das Bedürfnis, im Zweifel für sie zu entscheiden. Er ließ die Sache auf sich beruhen.
Der Rest der Fahrt nach Pengelly Cove verlief in freundschaftlicher Atmosphäre. Er erzählte ihr, wie sein privilegiertes Leben ihn zur Polizeiarbeit gebracht hatte, und sie erzählte, wie ihre Leidenschaft für Tiere sie zunächst veranlasst hatte, Igel, Seevögel, Singvögel und Enten zu retten, und sie dann später zum Studium der Veterinärmedizin und letztlich zur Arbeit im Zoo geführt hatte. Die einzige Kreatur aus dem Tierreich, die sie nicht mochte, sei die Kanadagans, gestand sie. »Sie nehmen den ganzen Planeten in Beschlag«, erklärte sie. »Oder zumindest England, wie es scheint.« Ihr Lieblingstier sei der Otter, fuhr sie fort egal ob Fisch- oder Seeotter. Innerhalb der Gattung habe sie keine Vorlieben.
In Pengelly Cove bedurfte es nur eines kurzen Besuchs im Postamt einem Schalter im örtlichen Tante-Emma-Laden, um herauszufinden, dass mehr als ein Kerne im Einzugsgebiet wohnte. Sie alle waren Nachkommen eines gewissen Eddie Kerne und seiner Frau Ann. Letzterer residierte in einer Kuriosität, die er Ökohaus nannte, fünf Meilen außerhalb der Siedlung. Ann arbeitete im Curlew Inn, obwohl der Job eher eine Art Beschäftigungstherapie sei, denn nach einem Schlaganfall vor ein paar Jahren sei sie merklich gealtert. »Kernes gibt es hier wie Sand am Meer«, vertraute die Ladeninhaberin Lynley an. Sie war die einzige Arbeitskraft in dem Geschäft, eine Dame mit grauem Haar von unbestimmtem, aber fortgeschrittenem Alter, die gerade im Begriff gewesen war, einen winzigen Knopf an ein weißes Kinderhemdchen zu nähen, als sie eintraten. Sie stach sich mit der Nadel in den Finger. »Verflucht noch mal. Mist! Entschuldigung«, sagte sie, wischte den winzigen Blutstropfen an ihrer blauen Strickjacke ab und fuhr dann fort: »Wenn Sie raus auf die Straße gehen und "Kerne" rufen, drehen sich mindestens zehn Leute um und fragen: "Was?"« Sie überprüfte, ob der Knopf festsaß, und biss dann den Faden ab.
»Das wusste ich nicht«, sagte Lynley. Während Daidre die traurige Obstauslage gleich neben der Ladentür in Augenschein nahm, erstand er einige Postkarten, Briefmarken und eine Lokalzeitung — was er allesamt nicht gebrauchen konnte, im Gegensatz zu der Rolle Pfefferminzbonbons, die er ebenfalls auswählte. »Die Kernes hatten also eine ziemlich große Kinderschar, ja?«
Die grauhaarige Dame tippte seine Einkäufe in die Kasse. »Sieben haben sie, Eddie und Ann. Und alle wohnen noch hier, bis auf den Ältesten, Benesek. Er ist schon seit Ewigkeiten weg. Sind Sie mit den Kernes befreundet?« Sie schaute von Lynley zu Daidre. Zweifel schwang in ihrer Stimme mit.
Nein, er sei kein Freund der Familie, erklärte Lynley und zückte seinen Polizeiausweis. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Vorsicht, Polizei! Es hätte kaum deutlicher in ihren Zügen stehen können.
»Ben Kernes Sohn ist ermordet worden«, eröffnete Lynley ihr.
»Wirklich?« Unbewusst legte sie die Hand aufs Herz. »O mein Gott. Das ist aber eine traurige Nachricht. Was ist denn passiert?«
»Kannten Sie Santo Kerne?«
»Jeder hier kannte Santo. Er und seine Schwester Kerra waren als Kinder häufig für einige Zeit bei Eddie und Ann. Ann kam mit ihnen her, um Süßigkeiten oder Eis zu kaufen. Eddie nie. Er kommt nicht ins Dorf, wenn es nicht unbedingt sein muss. Schon seit Jahren nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Manche sagen, er sei zu stolz. Andere, er schäme sich zu sehr. Aber seine Ann ist anders. Außerdem muss sie ja arbeiten, damit Eddie seinen Traum verwirklichen und im Einklang mit der Natur leben kann.«
»Weswegen müsste er sich denn schämen?«, hakte Lynley nach.
Sie zeigte ein flüchtiges Lächeln, aber Lynley erkannte, dass es nichts mit Freundlichkeit oder Humor zu tun hatte, sondern eher damit, dass sie die Position anerkannte, in der sie beide sich im Moment befanden: er — der professionelle Fragensteller, sie — die Informationsquelle. »Es ist ein kleines Dorf«, antwortete sie. »Wenn die Dinge hier anfangen, für irgendwen schlecht zu laufen, können sie für eine lange Zeit schlecht bleiben, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Die Bemerkung mochte sich auf die Kernes beziehen oder aber auch auf ihre eigene Position, und Lynley verstand das. Als Postbeauftragte und Ladenbesitzerin wusste sie sicher einiges über die Vorgänge und Geschehnisse in Pengelly Cove. Als Mitglied der Dorfgemeinschaft wusste sie aber sicher auch, dass es klug war, den Mund zu halten, wenn ein Auswärtiger sich nach Dingen erkundigte, die ihn nichts angingen.
»Sie werden mit Ann oder Eddie reden müssen«, sagte sie. »Ann kann seit dem Schlaganfall nicht mehr so gut sprechen, aber Eddie wird Ihnen das Ohr abkauen, schätze ich. Gehen Sie nur zu ihm, er ist sicher zu Hause.«
Sie wies ihnen den Weg zur Farm der Kernes, ein paar Hektar Land nordöstlich von Pengelly Cove, wo einst Schafe geweidet hatten. Die Familie hatte die Farm allerdings umgestaltet und versuchte nun, kompromisslos ökologisch zu leben.