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Lynley suchte das Grundstück allein auf, denn Daidre hatte beschlossen, im Dorf zu bleiben, bis er die Angelegenheit erledigt hatte. Er fuhr durch ein verfallenes rostiges Tor, das unverschlossen war und sich auf einen steinigen Weg öffnete. Über diesen holperte er ungefähr eine dreiviertel Meile entlang, ehe er auf halber Höhe eines Hügels eine Behausung entdeckte. Sie bestand aus einem wirren Durcheinander an Materialien: Lehm, Stein, Ziegel und Holz, war teilweise eingerüstet und in schwere Planen gehüllt. Das Haus hätte aus jedem Jahrhundert stammen können. Allein die Tatsache, dass es überhaupt noch stand, grenzte an ein Wunder.

Nicht weit entfernt befanden sich ein Wasserrad und eine hölzerne Rinne, beides grob zusammengezimmert. Ersteres schien als Stromquelle zu dienen, denn es war an einen vorsintflutlichen, ebenfalls rostigen Generator angeschlossen. Letztere sollte wohl der Umleitung eines Baches dienen, welcher aus dem Wald kam, und versorgte das Rad, einen Teich und dahinter ein Kanalsystem, das den riesigen Garten durchzog. Der Garten schien frisch bepflanzt und harrte der späten Frühlingssonne. Ein gewaltiger Komposthaufen ragte im Hintergrund auf.

Lynley parkte neben einer Ansammlung alter Fahrräder, die die Besitzer offensichtlich nicht einmal mehr für wert hielten, ordentlich in den Fahrradständer zu stellen. Nur eines der Räder hatte aufgepumpte Reifen, doch im Großen und Ganzen schienen sie alle sich im Zustand unaufhaltsamer Auflösung zu befinden. Auf den ersten Blick fand Lynley keinen direkten Weg zur Vorder- oder Hintertür des Hauses. Ein ausgetretener Pfad schlängelte sich vom Fahrradständer in Richtung Baugerüst; bei näherer Betrachtung blitzten zwischen all dem niedergetrampelten Unkraut sogar eine Handvoll Pflastersteine hervor. Lynley balancierte von einem dieser Pflastersteine zum nächsten und gelangte zu etwas, was möglicherweise der Hauseingang war: eine Tür, der Wind, Wetter und Holzwürmer derart zugesetzt hatten, dass man kaum glauben mochte, sie könne noch in Betrieb sein.

Doch das war sie. Mehrfaches vernehmliches Klopfen rief einen alten und schlecht rasierten Mann auf den Plan. Eines seiner Augen war von grauem Star getrübt. Er war nachlässig und auffallend farbenfroh gekleidet: eine alte Khakihose und eine apfelgrüne Strickjacke, bis zum Hals zugeknöpft und an den Ellbogen ausgebeult. Sandalen und darunter dicke Wollsocken in Braun und Orange. Lynley wähnte Eddie Kerne vor sich. Er zückte seinen Polizeiausweis, während er sich vorstellte.

Kerne sah vom Ausweis zu seinem Gesicht. Dann wandte er sich von der Tür ab und ging wortlos ins Innere des Hauses zurück. Die Tür blieb offen, was Lynley als Einladung auffasste; also folgte er ihm.

Innen sah das Haus nicht wesentlich besser aus als von außen. Nach dem Alter der freigelegten Balken zu urteilen, schien es sich um ein langwieriges Renovierungsprojekt zu handeln. Die Wände entlang des zentralen Flurs waren vor langer Zeit bis auf das Fachwerk abgetragen worden, und doch nahm Lynley nicht den Duft frisch eingesetzten Holzes wahr. Vielmehr bedeckte ein Schorf aus Staub die Balken, der darauf hindeutete, dass die Arbeit vor Jahren begonnen und nie vollendet worden war.

Kernes Ziel war die Werkstatt, und der Weg dorthin führte durch die Küche und eine Waschküche, in der eine Waschmaschine neben einer altmodischen Bügelpresse stand und Leinen unter der Decke kreuz und quer gespannt waren, um auch bei schlechtem Wetter die Wäsche trocknen zu können. Schwerer Schimmelgeruch hing in diesem Raum — ein Aroma, das sich nur geringfügig verbesserte, als sie die Werkstatt erreichten. Dort hinein führte eine türlose Öffnung am entlegenen Ende der Waschküche. Nur eine dicke Plastikplane trennte sie vom Rest des Hauses. Stücke derselben Plastikplane bedeckten auch die Fenster der Werkstatt — ein Raum, der jüngeren Datums war. Er bestand aus unverputzten Betonblöcken und war eisig kalt, wie eine altmodische Speisekammer.

Ein Höhlenbewohner, kam es Lynley in den Sinn, als er eintrat. Der Raum war mit einer Werkbank, schief hängenden Schränken, einem hohen Sitzhocker und mit einer Unzahl Werkzeugen vollgestopft; doch was in erster Linie ins Auge fiel, waren Sägemehl, verschüttetes Maschinenöl, Farbflecken und Schmutz. Es schien ein unzulänglicher Rückzugsort für einen Mann, der Frau und Kindern mit diesem oder jenem Heimwerkerprojekt für eine Weile zu entfliehen suchte.

Es präsentierte sich in der Tat eine Vielzahl Heimwerkerprojekte auf Eddie Kernes Werkbank: Teile eines Staubsaugers, zwei zerbrochene Lampen, ein Föhn ohne Kabel, fünf Teetassen, denen die Henkel fehlten, ein kleiner Fußhocker, aus dem die Polsterung hervorquoll. Kerne schien sich die Teetassen vorgenommen zu haben, denn eine aufgeschraubte Klebstofftube steuerte das ihre zur Geruchsmischung im Raum bei, die vornehmlich von Feuchtigkeit bestimmt schien. Tuberkulose war wohl das wahrscheinlichste Ergebnis eines längeren Aufenthalts in solch einem Raum, und Kerne hatte einen schlimmen Husten. Wie Keats, als er seine herzerweichenden Briefe an seine angebetete Fanny schrieb, dachte Lynley.

»Ich kann Ihnen nichts sagen«, sagte Kerne über die Schulter, während er eine der Teetassen aufnahm, sie betrachtete und einen abgebrochenen Henkel daranhielt, um festzustellen, ob er passte. »Ich weiß natürlich, weswegen Sie hier sind, aber ich kann Ihnen nichts sagen.«

»Sie sind über den Tod Ihres Enkels informiert worden?«

»Er hat angerufen.« Kerne zog Schleim hoch, spuckte aber gnädigerweise nicht aus. »Hat mir Bescheid gesagt. Das war aber auch schon alles.«

»Ihr Sohn? Ben Kerne? Er hat angerufen?«

»Genau der. Wenigstens dafür hat's gereicht.« Die Betonung auf dafür deutete darauf hin, dass Kerne seinen Sohn in allen anderen Lebensbereichen für unzulänglich hielt.

»Soweit ich weiß, lebt Ben schon seit einigen Jahren nicht mehr in Pengelly Cove«, bemerkte Lynley.

»Ich wollte ihn nicht mehr hierhaben.« Kerne ergriff die Klebstofftube und gab zwei großzügige Tropfen auf beide Enden des Henkels. Er hatte eine ruhige Hand, wenn auch kein gutes Auge. Der Henkel gehörte eindeutig zu einer anderen Tasse; weder Farbe noch Form passte. Trotzdem drückte Kerne ihn an und wartete darauf, dass der Klebstoff anzog. »Ich hatte ihn zu seinem Onkel nach Truro geschickt, und da ist er dann geblieben. Musste er ja auch, oder, nachdem sie ihm gefolgt war.«

»Sie?«

Kerne warf ihm einen Blick zu, eine Braue in die Höhe gezogen. Er schien zu sagen: Sie wissen es noch nicht? »Seine Frau«, antwortete er knapp.

»Die jetzige Mrs. Kerne?«

»Genau. Er mag vielleicht davongelaufen sein, aber sie war hinter ihm her. Genau wie er hinter ihr. Sie ist ein Stück Dreck, und ich will nichts mit ihr zu tun haben und mit ihm auch nicht, solange er sich mit diesem Flittchen abgibt. Dellen Nankervis trägt die Schuld an allem, was in seinem Leben schiefgelaufen ist, und zwar vom ersten Tag an. Das können Sie ruhig in Ihr Dingsda schreiben, wenn Sie wollen. Und notieren Sie ruhig auch dazu, wer's gesagt hat. Ich schäme mich nicht für meine Haltung, denn über die Jahre hat sich wieder und wieder bewiesen, dass ich recht hatte.« Er klang zornig, doch der Zorn schien nur das zu verbergen, was in seinem Innern zerbrochen war.

»Sie sind schon sehr lange zusammen«, bemerkte Lynley.

»Und jetzt Santo.« Kerne ergriff eine weitere Teetasse und einen Henkel. »Sie glauben nicht, dass das irgendwie auf sie zurückgeht? Dann schnüffeln Sie mal ein bisschen herum. Schnüffeln Sie hier, in Truro und dort. Sie werden merken, dass es da irgendetwas gibt, was abscheulich stinkt und die Fährte führt geradewegs zu ihr.« Er trug wieder Klebstoff auf, und das Ergebnis war annähernd das Gleiche: eine Teetasse und ein Henkel, wie entfernte Verwandte, die einander nicht kannten. »Sagen Sie mir, wie's passiert ist«, befahl er.

»Er hat sich abgeseilt. In Polcare Cove gibt es eine Klippe…«

»Kenn ich nicht.«

»… nördlich von Casvelyn, wo Ihr Sohn und seine Familie leben. Die Klippe ist vielleicht siebzig Meter hoch. Er hatte oben eine Schlinge angebracht an einem Mauerpfosten, glauben wir, und diese Schlinge riss, als er den Abstieg begann. Sie war manipuliert worden.«