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Kerne sah Lynley nicht an, aber er hielt einen Moment mit seiner Arbeit inne. Seine Schultern bebten, dann schüttelte er langsam den Kopf.

»Es tut mir leid«, sagte Lynley. »Ich weiß, dass Santo und seine Schwester als Kinder viel Zeit bei Ihnen verbracht haben.«

»Das war nur ihretwegen.« Er spie die Worte geradezu aus. »Wenn sie sich wieder mal einen neuen Kerl geangelt hatte, ihn nach Hause brachte und es mit ihm hier und dort trieb, im Ehebett. Hat er Ihnen das nicht erzählt? Oder sonst wer? Na ja, ich schätze, nicht. Das hat sie schon als Mädchen mit ihm gemacht, und als erwachsene Frau genauso. Und hat sich anbumsen lassen. Mehr als einmal.«

»Sie wurde von anderen Männern schwanger?«, fragte Lynley.

»Er weiß ja nicht, was ich weiß«, sagte Kerne. »Aber sie hat es mir erzählt. Kerra, meine ich — die Tochter. "Mum ist von einem anderen Mann schwanger und muss es loswerden." Das hat sie uns erzählt. Ganz sachlich erzählt sie mir das, einfach so, und dabei ist sie gerade mal zehn Jahre alt. Zehn Jahre alt! Was für eine Frau ist das, die zulässt, dass ihr kleines Mädchen mitbekommt, was für einen Sauhaufen sie aus ihrem Leben gemacht hat? "Dad sagt, sie macht eine schwierige Phase durch", hat sie uns erzählt, "aber ich hab sie mit dem Makler gesehen, Granddad…" Oder mit dem Tanzlehrer oder dem Physiklehrer von der Schule. Ihr war's gleich. Wenn's sie gejuckt hat, musste irgendeiner es ihr besorgen, und wenn es nicht Ben war oder wenn er's ihr nicht besorgt hat, wann und wie sie's wollte, dann hat sie sich eben einen anderen gesucht. Also machen Sie mir nicht weis, dass sie nicht irgendwie hinter dieser Sache steckt, denn sie hat alles verbockt, was je im Leben des Jungen schiefgelaufen ist.«

Nicht in Santos Leben, gemahnte sich Lynley. Kerne sprach von seinem Sohn, und in ihm sprudelte eine Quelle aus Bitterkeit und Bedauern darüber, dass er nichts hatte sagen oder tun können, um den Kurs seines Sohnes zu korrigieren, nachdem dieser erst einmal eine falsche Entscheidung getroffen hatte. In dieser Hinsicht erinnerte Kerne ihn an seinen eigenen Vater und an all die Vorhaltungen, die er Lynley im Laufe seiner Kindheit gemacht hatte, weil er sich mit Menschen anfreundete, die sein Vater als "gewöhnlich" betrachtet hatte. Aber es hatte nichts genützt, denn Lynley hatte diese Erfahrungen immer als bereichernd empfunden.

»Ich hatte keine Ahnung«, räumte er ein.

»Na ja, woher auch? Er wird das kaum herumerzählen. Sie hat ihn in die Klauen bekommen, als er noch ein Junge war, und seither hat er Scheuklappen vor den Augen. Jahrelang ging's auf und ab mit ihnen, und jedes Mal, wenn seine Mutter und ich dachten, er hätte die Nutte endlich in die Wüste geschickt, wäre zu Verstand gekommen und wir wären sie ein für alle Mal los — er wäre sie los, und endlich könnte er ein normales Leben führen wie wir anderen auch, — da steht sie plötzlich wieder da, träufelt ihm ein, wie sehr sie ihn braucht, dass er der Einzige für sie ist, und wie schrecklich leid es ihr tut, dass sie es mit einem anderen getrieben hat, aber es wäre ja schließlich nicht ihre Schuld, denn er wäre ja nicht da gewesen, um auf sie aufzupassen, er hätte ihr nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt… Sie wackelt einmal mit dem Hintern, und er kann nicht mehr klar denken, sieht nicht, wie sie ist oder was sie tut und wie gefangen er ist. Wir haben es kommen sehen: dass sie ihn zugrunde richtet. Deswegen haben wir ihn weggeschickt. Und was macht sie? Das Miststück packt ihre Klamotten und fährt unserem Ben hinterher…« Er stellte die zweite, schlecht geflickte Tasse beiseite. Er atmete schwer, und in seiner Brust brodelte es. Lynley fragte sich, ob der Mann je zum Arzt ging.

»Wir haben uns gedacht, seine Mutter und ich, wenn wir zu ihm sagen: "Wenn du dich nicht von dem verdammten Flittchen trennst, bist du nicht mehr unser Sohn", dass er's dann tun würde. Er ist doch unser Junge, unser Ältester, und er muss schließlich an seine Geschwister denken, die ihn wirklich gernhaben und die sich alle gut verstehen. Wir haben gedacht, er muss nur für eine Weile weg, bis diese Sache ausgestanden ist, und dann kann er zurückkommen zu uns. Aber es hat nichts genützt, weil er sie nicht aufgeben wollte. Sie hat ihn völlig in Besitz genommen, er hat sie in seinem Blut, und damit Schluss.«

»Bis was ausgestanden ist?«

»Hä?« Kerne wandte sich um und sah Lynley an.

»Sie sagten, Ihr Sohn müsse nur für einige Jahre weg, bis "diese Sache ausgestanden sei". Ich habe mich gefragt, was genau.«

Kernes gesundes Auge verengte sich. »Sie reden nicht wie ein Cop«, bemerkte er. »Cops reden wie wir, aber Sie haben eine Stimme, die… Woher stammen Sie?«

Lynley hatte nicht die Absicht, sich mit einer Debatte über seine Herkunft ablenken zu lassen. »Mr. Kerne, wenn Sie etwas wissen — was offensichtlich der Fall ist, — was mit dem Tod Ihres Enkels in Verbindung steht, dann muss ich es erfahren.«

Kerne drehte sich wieder zur Werkbank um. Er sagte: »Was passiert ist, liegt Jahre zurück. Benesek war… siebzehn, achtzehn vielleicht? Es hat nichts mit Santo zu tun.«

»Bitte lassen Sie mich das entscheiden. Sagen Sie mir, was Sie wissen.«

Nachdem er die Forderung ausgesprochen hatte, wartete Lynley. Er hoffte, der Kummer des alten Mannes — der unterdrückt und doch so lebendig war — werde ihn zwingen zu reden.

Und schließlich tat Kerne das auch, selbst wenn es schien, als spräche er mehr zu sich selbst als zu Lynley. »Sie waren unten am Strand, und jemand ist verunglückt. Jeder hat mit dem Finger auf jemand anderen gezeigt, und niemand wollte die Verantwortung übernehmen. Die Sache wurde hässlich, und da haben ich und seine Mutter ihn nach Truro geschickt, bis wir nicht mehr damit rechnen mussten, dass die Leute ihn schief ansahen.«

»Wer ist verunglückt? Und wie?«

Kerne schlug mit der flachen Hand auf die Werkbank. »Ich sagte doch, es spielt keine Rolle. Was soll das mit Santo zu tun haben? Es ist Santo, der tot ist, nicht sein Vater. Irgendein verdammter Bengel hat sich eines Abends volllaufen lassen und sich in eine der Höhlen unten in der Bucht gelegt, um seinen Rausch auszuschlafen. Was bitte schön soll das mit Santo zu tun haben?«

»Sind sie nachts surfen gegangen?«, hakte Lynley nach. »Was ist passiert?«

»Was glauben Sie wohl, was passiert ist? Sie waren nicht surfen, es war eine Party. Er hatte gefeiert, genau wie alle anderen. Er hatte irgendwelche Drogen genommen, zusätzlich zu allem, was er in sich reingeschüttet hatte. Als die Flut kam, war er erledigt. Die Flut schießt schneller in die Höhlen, als ein Mann weglaufen kann, denn sie sind tief, und jeder weiß, wenn man reingeht, sollte man besser wissen, wo das Meer steht und was es tut, denn wenn nicht, kommt man nicht wieder raus. Oh, man denkt vielleicht, man schafft es noch. Man denkt vielleicht, was soll's, ich kann doch schwimmen. Aber man wird herumgeschleudert und gegen die Felsen gespült, und wer zu dämlich ist, auf einen guten Rat zu hören und nicht in die Bucht zu gehen, wenn's doch gefährlich ist, dem ist eben nicht zu helfen.«

»Und genau das ist jemandem passiert«, bemerkte Lynley.

»Das ist passiert.«

»Wem?«

»Diesem Jungen, der ein paarmal im Sommer hier war. Die Familie hatte Geld. Sie hatten immer das Cliff House gemietet. Ich kannte die Leute nicht, aber Benesek kannte sie. Das ganze junge Volk kannte sie, weil sie doch den ganzen Sommer unten am Strand verbrachten. Dieser Junge, John oder James… Ja, ich glaube, James hieß er. Der war's.«

»Der Junge, der in der Höhle verunglückt ist?«

»Nur dass seine Eltern das anders sahen. Sie wollten einfach nicht einsehen, dass es seine eigene Dummheit war. Sie brauchten einen Sündenbock, und sie haben sich unseren Benesek dafür ausgesucht. Auch noch andere, aber Benesek, haben sie gesagt, steckte hinter alldem, was passiert ist. Sie haben die Cops aus Newquay geholt und ließen uns keine Ruhe mehr. Weder die Familie noch die Cops. Du weißt doch etwas,haben sie behauptet, und das wirst du uns verdammt noch mal sagen! Aber der Junge wusste überhaupt nichts, das hat er wieder und wieder beteuert, bis die Cops ihm irgendwann einfach glauben mussten. Aber da hatte der Vater dem toten Jungen schon diese verdammte, blöde Gedenkstätte gebaut, und alle guckten unseren Ben immer so komisch an. Darum haben wir ihn zu seinem Onkel geschickt, denn der Junge musste doch eine Chance im Leben haben, und die hätte er hier nicht mehr gekriegt.«