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»Eine Gedenkstätte?«, fragte Lynley. »Wo?«

»Irgendwo draußen an der Küste. Auf einer Klippe. Wahrscheinlich haben sie sich gedacht, mit so einer Gedenkstätte sorgen sie dafür, dass die Leute niemals vergessen, was passiert ist. Ich selbst wandere nicht, darum kenne ich sie nicht, aber sie ist bestimmt so geworden, wie die Eltern es wollten, und erinnert die Leute.« Er lachte unfroh. »Sie haben ein ordentliches Sümmchen dafür ausgegeben, wahrscheinlich weil sie gehofft haben, dass es unseren Ben bis ins Grab verfolgt. Sie konnten ja nicht wissen, dass er nie wieder nach Hause kommen würde. War alles umsonst…« Er nahm eine weitere Teetasse in die Hand, die weit schlimmer beschädigt war als die vorherigen. Sie hatte einen Sprung vom Rand bis zum Boden und einen Schmiss auf jeder Seite, genau an den Stellen, wo man seine Lippen ansetzte. Es schien sinnlos, sie zu kitten, nichtsdestotrotz wollte Eddie Kerne sich die Mühe machen. Leise sagte er: »Ben war ein guter Junge. Ich wollte immer nur sein Bestes. Ich hab mich bemüht, das Beste für ihn zu kriegen. Welcher Vater will nicht das Beste für seinen Sohn?«

»Jeder Vater will das«, stimmte Lynley zu.

Pengelly Cove zu erkunden, dauerte nicht lange. Nach dem Tante-Emma-Laden und den zwei Hauptstraßen blieben lediglich die Bucht selbst, eine alte Kirche am Stadtrand und das Curlew Inn, um sich die Zeit zu vertreiben. Nachdem Daidre allein im Dorf zurückgeblieben war, begann sie mit der Kirche. Sie rechnete damit, sie verschlossen vorzufinden, wie es in Zeiten religiöser Gleichgültigkeit und zunehmenden Vandalismus bei so vielen Kirchen auf dem Land der Fall war, aber sie täuschte sich. Das Kirchlein war offen. Es hieß St. Sithy und stand inmitten des Friedhofs, wo Überreste verblühter Narzissen den Pfad säumten, allmählich aber von Akelei überdeckt wurden.

Im Innern roch es nach Stein und Staub, und die Luft war kalt. Gleich neben der Tür fand sich ein Lichtschalter, und als Daidre ihn betätigte, erhellte sie ein Hauptschiff mit einem Mittelgang und eine Ansammlung vielfarbiger Seile, die vom Glockenturm herabhingen. Zu ihrer Linken stand ein grob behauener Taufstein, während rechts ein ungleichmäßig gepflasterter Gang zu Altar und Kanzel führte. Sie sah aus wie jede Kirche in Cornwall bis auf eine Kleinigkeit: ein Selbstbedienungsflohmarkt, dessen Organisatoren noch an die Ehrlichkeit der Menschen glaubten. Er bestand aus einem Tisch und Regalen gleich hinter dem Taufbecken, und darauf wurden alle möglichen Gegenstände aus zweiter Hand zum Kauf angeboten. Eine verschlossene Holzkiste diente als Kasse.

Daidre trat näher, um ihn in Augenschein zu nehmen. Sie fand keinen Hinweis auf den guten Zweck, dem all dies geschuldet sein sollte, dafür aber einen eigentümlichen Charme. Alte Spitzendeckchen mischten sich mit Einzelstücken aus Porzellan. Glasperlenketten hingen abgenutzten Kuscheltieren um die Hälse. Bücher gingen aus dem Leim, Kuchenplatten und Plätzchendosen enthielten Gartenkleingeräte statt Leckereien. Ein Schuhkarton quoll beinahe über von historischen Postkarten. Sie zog einige davon aus der Schachtel und blätterte sie durch, und sie stellte fest, dass die meisten schon beschrieben waren, vor langer Zeit gestempelt und empfangen. Darunter fand sich auch ein Bild von einem Zigeunerwagen — einer von der Sorte, wie sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen hatte: das Dach gewölbt, die Wände bunt bemalt, eine Hommage an das Vagabundenleben. Unerwartet traten ihr Tränen in die Augen, als sie auf die Postkarte hinabblickte. Im Gegensatz zu den meisten anderen war diese nicht beschrieben.

Bis vor wenigen Tagen wäre es Daidre nie in den Sinn gekommen, eine derartige Karte zu kaufen, aber jetzt tat sie es. Sie erstand noch zwei weitere, auf denen Grüße standen. Eine war von Tante Hazel und Onkel Dan und zeigte Fischerboote in Padstow, die zweite hatten Binkie und Earl geschickt, und auf ihr war eine Gruppe Surfer mit langen Malibu-Boards zu sehen, die aufrecht im Sand von Newquay steckten.  Fistral Beach stand quer über die Füße der Surfer geschrieben, und entweder Binkie oder Earl hatte erklärend ausgeführt: Hier ist es passiert!!!! Hochzeit nächsten Dezember!

Daidre verließ die Kirche mit ihren Neuerwerbungen nicht bevor sie auch noch einen Blick auf die Bitttafel geworfen hatte, wo Gemeindemitglieder ihre Anliegen an Gott angeschlagen hatten. Die meisten waren gesundheitlicher Natur, und Daidre kam in den Sinn, wie selten die Menschen sich auf Gott besannen, wenn sie oder ihre Lieben nicht gerade von einer Krankheit bedroht waren.

Sie selbst war zwar nicht religiös, aber hier bot sich eine Gelegenheit, erkannte sie. Der Gott des Zufalls hatte sie hierhergeführt. Sollte sie, oder sollte sie nicht? Immerhin hatte sie das Internet auf der Suche nach Wundern durchforstet. Denn was war dies hier, wenn nicht lediglich ein weiterer Kontext, wo man möglicherweise auf ein Wunder hoffen konnte?

Sie griff nach dem bereitliegenden Kugelschreiber und einem Stück Papier, das einmal Teil eines Werbezettels für einen wohltätigen Kuchenbasar gewesen war. Sie schrieb auf die leere Seite: Betet für… Aber dann stellte sie fest, dass sie nicht fortfahren konnte. Sie fand die Worte nicht für ihre Bitte, weil sie sich nicht einmal sicher war, ob es wirklich ihre Bitte war. Es erwies sich als zu monumentale Aufgabe, sie niederzuschreiben und an die Tafel zu hängen und überdies basierte sie auf einer Heuchelei, mit der sie sich nicht anfreunden konnte. Sie legte den Stift zurück, zerknüllte das Blatt und steckte es in die Tasche. Dann verließ sie die Kirche.

Sie weigerte sich, Gewissensbisse zu empfinden. Wut war einfacher. Mochte die Wut auch die letzte Zuflucht der Ängstlichen sein — es war ihr gleich. Sie formte Sätze, die mit Ich brauche nicht… Mir ist egal… oder Ich schulde niemandem… begannen, und diese Sätze trieben sie aus der Kirche hinaus, über den Friedhof zur Straße zurück und weiter zum Ortskern von Pengelly Cove. Als sie sich dem Curlew Inn näherte, hatte sie den Gedanken an Gebetstafeln bereits abgeschüttelt. Und dann entdeckte sie Ben Kerne, der die Gaststätte vor ihr betrat.

Sie war ihm nie vorgestellt worden. Natürlich wusste sie von ihm und hatte seinen Namen im Laufe der vergangenen zwei Jahre mehr als nur ein Mal in einem Gespräch gehört. Aber sie hätte ihn vielleicht nicht so mühelos erkannt, hätte sie nicht noch heute Morgen im  Watchman den Artikel über sein Unternehmen und seine Pläne für das King-George-Hotel gelesen.

Sie hatte das Curlew Inn ohnehin aufsuchen wollen, also folgte sie dem Mann hinein. Sie war im Vorteil, weil er sie nicht kannte. Folglich war es ein Leichtes, ihn aus der Distanz zu beschatten. Sie nahm an, er wollte zu seiner Mutter, hatte Daidre doch gehört, was die Dame im Postladen Lynley über Ann Kerne erzählt hatte. Entweder das, entschied Daidre, oder er wollte etwas essen, was sie für unwahrscheinlich hielt, obwohl es bald Zeit fürs Abendessen sein würde.

Ben wandte sich jedoch nicht zum Restaurant des Gasthauses, und die Art, wie er sich hier bewegte, verriet Daidre, dass er mit diesem Haus vertraut war. Er umrundete die Rezeption und folgte einem dämmrigen Korridor zu einem Quadrat aus Licht, das durch ein Fenster im beleuchteten Büro am Ende des Hauses fiel. Ohne anzuklopfen, trat er ein, was darauf hindeutete, dass er entweder erwartet wurde oder die Person, die er aufsuchte, überraschen oder sogar überrumpeln wollte.