Daidre beeilte sich, nichts zu verpassen, und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie eine ältere Frau sich mühsam vom Schreibtischstuhl erhob. Sie war grauhaarig und auffallend blass. Einer ihrer Mundwinkel hing herab, und Daidre erinnerte sich, dass die Frau einen Schlaganfall erlitten hatte. Doch sie hatte sich gut genug erholt, um ihrem Sohn einen Arm entgegenzustrecken. Als er näher trat, umarmte sie ihn mit solcher Kraft, dass Daidre selbst auf die Entfernung die Innigkeit der Geste erkannte. Sie sprachen kein Wort, sondern ergingen sich schweigend in der Vertrautheit zwischen Mutter und Kind.
Die schiere Kraft dieses Augenblicks strömte durch das Bürofenster und ergriff auch Daidre. Doch sie fühlte sich nicht getröstet. Vielmehr überkam sie eine Trauer, der sie nicht standhalten konnte. Sie wandte sich ab.
15
Detective Inspector Hannaford unterbrach ihren Arbeitstag wegen der Hunde. Sie wusste, es war eine lahme Ausrede, und hätte jemand sie hinterfragt, wäre sie in Verlegenheit geraten. Nichtsdestotrotz: Hund Eins, Zwei und Drei mussten gefüttert und Gassi geführt werden, und Bea redete sich ein, nur jemand, der keine Erfahrung mit Hunden hatte, könne glauben, diese Kreaturen leisteten einander ausreichend Gesellschaft während der vielen Stunden, da ihre Menschen bei der Arbeit waren. Nicht allzu lange nach ihrer Unterhaltung mit Tammy Penrule hatte sie daher die Einsatzzentrale aufgesucht, um sich ein Bild von den Fortschritten der Beamten zu machen. Sie waren nicht nennenswert gewesen, und dieser Constable McNulty hatte doch tatsächlich über Santo Kernes Computer gehockt und mit beinah lüsternen Blicken große Surfwellen begafft. Das hatte sie zum Anlass genommen, in ihren Wagen zu steigen und nach Holsworthy zu fahren.
Wie erwartet, waren Hund Eins, Zwei und Drei entzückt, sie zu sehen. Sie drückten ihre Freude mit ausgelassenen Sprüngen und lautem Gebell aus, tollten wild im Garten umher und suchten nach irgendetwas, was sie ihr zu Füßen legen konnten. Eins brachte ihr einen Plastikgartenzwerg, Zwei schenkte ihr einen halb verfaulten Kauknochen aus Wildleder, und von Drei bekam sie den zerkauten Griff einer Schaufel. Bea nahm die Gaben mit einer angemessenen Freudenbekundung entgegen, angelte die Hundeleinen aus einem Haufen Stiefel, Handschuhe, Anoraks und Pullover auf einem Hocker gleich hinter der Küchentür und leinte die Labradore ohne viel Aufhebens an. Statt sie Gassi zu führen, brachte sie sie jedoch zum Landrover. »Rein mit euch«, sagte sie, noch während sie die Heckklappe öffnete. Leichtfüßig sprangen sie hinein. Sie glaubten wohl O happy day!, heute ginge es hinaus aufs Land.
Unglücklicherweise täuschten sie sich. Es ging zu Ray. Wenn er Pete wollte, fand Bea, sollte er auch bereit sein, Petes Haustiere aufzunehmen. Sicher, es waren genauso gut ihre Hunde, vielleicht sogar in erster Linie ihre Hunde, aber sie hatte lange Arbeitstage vor sich, wie Ray selber angemerkt hatte, und die Hunde brauchten Aufsicht ebenso wie Pete. Sie schnappte sich die riesige Tüte mit Hundefutter, die Näpfe und andere Gegenstände zur Herbeiführung hündlicher Glückseligkeit, und dann fuhren sie los. Schwanzwedelnd pressten die Hunde die Nasen an die Seitenfenster und verschmierten die Scheiben.
Als sie vor Rays Haus parkte, verfolgte Bea zwei Absichten: Die erste bestand darin, Hund Eins, Zwei und Drei in den Garten zu bugsieren, aus dem dank Rays begrenzter Zeit, Unfähigkeit oder Gleichgültigkeit oder aller drei Eigenschaften nie mehr geworden war als ein Betonquadrat mit einem Stück Rasen dahinter. Keine hübsch gepflegten Beeteinfassungen, die die Hunde durchwühlen, und auch sonst nichts, was sie hätten zerkauen können. Der Garten war somit der perfekte Hort für die drei übermütigen Labradore, und Bea hatte frische Wildlederknochen, eine Tüte Spielzeug und einen alten Fußball mitgebracht, um sicherzustellen, dass sie sich nicht langweilten und als Vorwand für ihre weitere Absicht, Rays Haus zu betreten. Schließlich musste sie ja das Hundefutter und die Näpfe abliefern, und wenn sie schon mal drinnen war, wollte sie sich vergewissern, dass Ray tatsächlich vernünftig für Pete sorgte. Immerhin handelte es sich bei Ray um einen Mann, und was verstand ein Mann schon von den Bedürfnissen eines Vierzehnjährigen. Nichts. Nur eine Mutter wusste, was das Beste für ihren Sohn war.
Sie wusste, diese Ausrede würde nicht standhalten können, drum gestattete Bea ihren Gedanken nicht, in diese Richtung zu schweifen. Sie redete sich ein, sie habe nur Petes Wohlergehen im Sinn, und da sie einen Schlüssel zu Rays Haus besaß genau wie er zu ihrem, war es eine Kleinigkeit hineinzugelangen, sobald die Hunde glücklich den Garten erschnupperten. Sie würde nur schnell nach dem Rechten sehen, ohne dass irgendjemand etwas davon bemerkte. Ray war bei der Arbeit, Pete in der Schule. Sie würde das Futter, die Näpfe und eine kurze Nachricht wegen der Hunde hinterlassen und einen schnellen Blick in den Kühlschrank und in den Müll werfen, um sicherzugehen, dass sich keine Pizzakartons oder Einwegverpackungen vom Chinesen oder Inder zwischen dem restlichen Abfall versteckten. Und wenn sie schon einmal da war, wollte sie auch noch Rays Videosammlung inspizieren und dafür sorgen, dass dort nichts Fragwürdiges stand, das Pete in die Hände fallen könnte, und sollte sie Hinweise auf blonde Frauen unter dreißig finden, wie Ray sie bevorzugte, würde sie auch diese beseitigen.
Sie hatte kaum einen Schritt ins Haus gesetzt, als klar wurde, dass ihr Plan sich nicht ohne Weiteres in die Tat würde umsetzen lassen. Zweifellos angezogen von dem ausgelassenen Gebell im Garten, kam jemand die Treppe heruntergepoltert, und einen Moment später fand sie sich Auge in Auge mit ihrem Sohn.
»Mum!«, rief er. »Was machst du denn hier? Sind das die Hunde?«, fragte er und nickte in Richtung Garten.
Bea sah, dass er dabei war, etwas zu essen, und es hätte eine Menge Minuspunkte für seinen Vater bedeutet, hätte sein Snack aus Chips oder Pommes bestanden. Doch er hielt eine Tüte mit Apfelscheiben und Mandeln in der Hand, und sie schienen dem schrecklichen Jungen auch noch zu schmecken. Also konnte sie sich darüber nicht aufregen, sehr wohl aber über die Tatsache, dass er daheim war.
»Die Frage ist wohl eher, was du hier machst«, konterte sie. »Hat dein Vater dir erlaubt, die Schule zu schwänzen? Oder bist du einfach abgehauen? Was ist los? Bist du allein? Oder ist da oben noch jemand bei dir? Was zum Henker treibst du hier?« Bea kannte die typische Karriere; sie begann mit Schuleschwänzen und setzte sich mit Drogenkonsum fort. Drogen führten zu Einbrüchen und Diebstählen. Und die führten ins Gefängnis. Vielen herzlichen Dank auch, Ray Hannaford. Gut gemacht. Vater des Jahres.
Pete trat einen Schritt zurück. Er kaute nachdenklich und betrachtete sie.
»Antworte mir gefälligst«, verlangte sie. »Wieso bist du nicht in der Schule?«
»Schulfrei«, erklärte er.
»Was?«
»Wir haben heute Nachmittag schulfrei, Mum. Lehrerkonferenz oder so was. Ich weiß nicht genau. Ich meine, ich hab's mal gewusst, aber wieder vergessen. Die Lehrer veranstalten irgendwas. Ich hab dir doch davon erzählt. Ich hab den Zettel mit der Benachrichtigung mit nach Hause gebracht.«
Jetzt fiel es ihr wieder ein. Das hatte er tatsächlich, vor ein paar Wochen. Es stand im Kalender. Sie hatte sogar mit Ray darüber gesprochen, und sie hatten debattiert, wer Pete an diesem verkürzten Schultag abholen sollte. Trotzdem war sie nicht gewillt, sich für ihre Verdächtigungen zu entschuldigen. Sie witterte Leichen im Keller, und sie gedachte, sie auszugraben. »Also«, begann sie. »Wie bist du nach Hause gekommen?«
»Dad.«
»Dein Vater hat dich abgeholt? Und wo ist er jetzt? Was machst du hier allein?« Sie war wild entschlossen. Irgendetwas musste doch zu finden sein.