Daidre stand schweigend an seiner Seite, während er das nächste Streichholz anriss. Er stellte sich vor, wie ein Junge in dieser oder irgendeiner anderen Höhle von der Flut überrascht wurde. Betrunken, bekifft, vielleicht ohnmächtig, und wenn nicht ohnmächtig, dann im Vollrausch. Letzten Endes spielte es keine Rolle. Wenn er bei Dunkelheit weit genug ins Innere vorgedrungen war, hatte er wahrscheinlich nicht einmal entscheiden können, in welche Richtung er vor dem Wasser fliehen sollte.
»Thomas?«
Das Streichholz flackerte, als er sich zu Daidre umwandte. Das Licht warf einen Schimmer auf ihre Haut. Eine Strähne hatte sich aus der Spange befreit, mit der sie das Haar im Nacken zusammenhielt, und sie fiel ihr auf die Wange und umspielte ihre Lippen. Ohne nachzudenken, strich er sie von ihrem Mund zurück. Ihre Augen ungewöhnlich braun wie die seinen schienen sich zu verdunkeln.
Plötzlich ging ihm auf, was ein Augenblick wie dieser bedeutete. Die Höhle, das schwache Licht, ein Mann und eine Frau. Kein Betrug, sondern eine Bejahung. Das Wissen, dass das Leben irgendwie weiterging.
Dann verbrannte das Streichholz ihm die Finger. Hastig ließ er es fallen. Der Moment war vorüber, so schnell, wie er gekommen war, und Lynley dachte wieder an Helen. Er spürte ein Brennen in seinem Innern, weil er die Erinnerung nicht fand, die dieser Augenblick so zwingend erforderte: Wann hatte er Helen zum ersten Mal geküsst?
Er wusste es nicht mehr und schlimmer noch verstand nicht, warum er es nicht wusste. Er hatte sie schon Jahre vor ihrer Heirat gekannt. Sie waren sich begegnet, als sein bester Freund sie während der Trimesterferien mit nach Cornwall gebracht hatte. Hatte er sie da geküsst — ein flüchtiger Wangenkuss zum Abschied am Ende der Ferien? Eine Geste, die nur besagte: »Es war schön, dich kennenzulernen«, bedeutungslos damals, aber heute von enormer Wichtigkeit? Er spürte die Notwendigkeit, dass er sich an jede Einzelheit von Helen erinnerte. Es war der einzige Weg, sie zu bewahren und der gähnenden Leere etwas entgegenzusetzen. Und darum ging es: die gähnende Leere zu bekämpfen. Wenn er erst einmal hineingeriete, wusste er, wäre er verloren.
»Wir sollten gehen«, sagte er schließlich. »Können Sie uns hinausführen?«
»Natürlich. Das dürfte nicht allzu schwierig sein.«
Sie bewegte sich mit Selbstsicherheit, strich leicht mit einer Hand über die Oberfläche der Mollusken. Er folgte ihr und spürte seinen Puls hinter den Augen hämmern. Er wusste, er musste irgendetwas sagen, darüber, was sich eben zwischen ihnen abgespielt hatte, musste sich Daidre in irgendeiner Weise erklären. Aber er fand keine Worte, und selbst wenn er das Vokabular besessen hätte, um ihr das Ausmaß seiner Trauer und seines Verlusts begreiflich zu machen, war es doch gar nicht nötig. Denn sie war diejenige, die das Schweigen brach als sie die Höhle verließen und sich auf den Rückweg zum Wagen machten.
»Thomas, erzählen Sie mir von Ihrer Frau.«
»Was wollen Sie wissen?«
Sie zögerte. Ein gütiges Lächeln lag auf ihren Lippen. »Was immer Sie mir erzählen wollen.«
16
Am nächsten Morgen ertappte Lynley sich dabei, dass er unter der Dusche summte. Das Wasser rauschte über seinen Kopf und den Rücken, und er war mitten in Tschaikowskys Dornröschen-Walzer, als er abrupt innehielt und merkte, was er da tat. Schuldgefühle überkamen ihn, aber nur für einen kurzen Augenblick. Den Schuldgefühlen folgte die Erinnerung an Helen — die erste seit ihrem Tod, die ihn zum Lächeln brachte. In Sachen klassische Musik war sie schier hoffnungslos gewesen, mit Ausnahme einer einzigen Mozart-Komposition, die sie unfehlbar und voller Stolz erkannte. Als sie zum ersten Mal mit ihm zusammen Domröschen gehört hatte, hatte sie gerufen: »Walt Disney! Tommy, Darling, seit wann hörst du Walt Disney? Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich.«
Er hatte sie verständnislos angestarrt, bis er sich an den alten Zeichentrickfilm erinnerte, den sie wohl kürzlich während eines Besuches bei ihren Nichten und Neffen gesehen hatte. Mit ernster Miene hatte er erklärt: »Walt Disney hat sich bei Tschaikowsky bedient, Liebling.« Woraufhin sie sich empört hatte: »Das ist doch nicht möglich! Hat Tschaikowsky auch den Text geschrieben?« Er hatte das Gesicht zur Decke gewandt und gelacht.
Doch Helen war nicht gekränkt gewesen. Das hatte ihrer Natur einfach ferngelegen. Stattdessen hatte sie die Hand an den Mund gelegt und gefragt: »Hab ich's schon wieder getan? Siehst du, das ist der Grund, warum ich andauernd Schuhe kaufen muss. So viele Fettnäpfe — da muss ich sie einfach ständig ersetzen.«
Sie war absolut unmöglich gewesen, dachte er. Hinreißend, anziehend, nervtötend und urkomisch. Und weise. Sie hatte eine Weisheit des Herzens besessen, die er nicht für menschenmöglich gehalten hatte. Was ihn betraf ebenso wie alles, was zwischen ihnen von Bedeutung war. Er vermisste sie schmerzlich in diesem Augenblick, aber gleichzeitig feierte er sie. Und damit einher ging eine leichte Veränderung in seinem Innern — die erste seit ihrer Ermordung.
Er summte weiter, während er sich abtrocknete. Er summte immer noch, das Handtuch um die Hüften geschlungen, als er die Tür zu dem schmalen Korridor öffnete.
Und fand sich Auge in Auge mit Detective Sergeant Barbara Havers.
»Mein Gott«, entfuhr es ihm.
»Ich bin schon schlimmer betitelt worden«, bemerkte Havers. Sie fuhr mit der Hand durch ihren unmöglich geschnittenen und jetzt auch noch ungekämmten Schopf. »Sind Sie immer so munter vor dem Frühstück, Sir? Falls ja, ist heute das letzte Mal, dass ich das Badezimmer mit Ihnen teile.«
Er konnte einen Moment nichts anderes tun als sie anstarren, so unvorbereitet war er auf den Anblick seiner ehemaligen Partnerin gewesen. In Ermangelung von Hausschuhen trug sie dicke himmelblaue Socken an den Füßen, darüber einen rosa Schlafanzug, der mit Schallplatten, Noten und Zitaten aus Rockklassikern bedruckt war. Sie schien zu merken, dass er ihre Aufmachung begutachtete, und erklärte: »Oh. Das war ein Geschenk von Winston.«
»Die Socken oder der Rest?«
»Der Rest. Er hat ihn in einem Katalog entdeckt. Konnte nicht widerstehen, hat er gesagt.«
»Ich werde mit Sergeant Nkata über impulsives Verhalten und Selbstbeherrschung sprechen müssen.«
Sie kicherte in sich hinein. »Ich hab's doch gewusst: Sollten Sie diesen Schlafanzug je sehen, würden Sie hingerissen sein.«
»Das Wort "hingerissen" wird meinen Gefühlen nicht einmal ansatzweise gerecht.«
Sie nickte zum Badezimmer hinüber. »Sind Sie da drin fertig mit Ihrer Morgen-was-auch-immer?«
Er trat beiseite. »Es gehört Ihnen.«
Sie schob sich an ihm vorbei, hielt aber inne, ehe sie die Tür schloss. »Tee?«, fragte sie. »Kaffee?«
»Kommen Sie einfach nachher bei mir vorbei.«
Als sie schließlich in ihrer üblichen Montur in sein Zimmer trat, war er inzwischen angezogen und hatte Tee gekocht — für Instantkaffee war er nicht verzweifelt genug. Sie hatte angeklopft und überflüssigerweise gerufen: »Ich bin's!«
Er hatte ihr die Tür geöffnet, und sie hatte sich sogleich neugierig umgesehen. »Ich sehe, Sie haben das elegantere Zimmer für sich beansprucht. Meines war mal der Dachboden. Ich fühle mich wie Aschenputtel vor dem gläsernen Schuh.«
Er hielt die Blechkanne mit dem Tee hoch. Sie nickte und ließ sich auf sein Bett fallen, das er ordentlich gemacht hatte. Havers hob die alte Tagesdecke an, um zu inspizieren, wie er das hinbekommen hatte. »Ordentliche Ecken, wie bei einem Krankenhausbett«, stellte sie anerkennend fest. »Gut gemacht, Sir. Haben Sie das in Eton gelernt? Oder zu einem anderen Zeitpunkt Ihrer wechselvollen Vergangenheit?«
»Von meiner Mutter«, erklärte er. »Die Kunst des Bettenmachens und der korrekte Einsatz von Leinenservietten spielten in ihrer Erziehung eine zentrale Rolle. Soll ich Milch und Zucker für Sie dazugeben, oder tun Sie das lieber selbst?«