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»Das war sie.«

Daidre bog an derselben Stelle ab wie immer, nutzte den kleinen Parkplatz von Polcare Cove als Wendepunkt, um ihren Wagen in die Richtung zu bringen, die sie von hier fortführen würde. Hinter sich hörte sie die Brecher auf dem zerklüfteten Schieferriff, und vor sich sah sie das uralte, weite Tal und oberhalb davon Stowe Wood, wo die Bäume auszuschlagen begannen. Bald würden Sternhyazinthen in ihren Schatten blühen und einen saphirblauen Teppich über den Waldboden legen, der in der Frühlingsbrise wogte.

Sie fuhr hügelan und aus der Bucht heraus, folgte dem Zickzackkurs der Sträßchen, den die Natur dieses Landes und die Besitzverhältnisse vorgegeben hatten. So gelangte sie zur A39 und fuhr nach Süden. Sie hatte eine lange Fahrt vor sich. An der Columb Road hielt sie vor einer Bäckerei an und erstand einen Becher Kaffee und ein Pain au Chocolat. Mit dem jungen Mann hinter der Theke führte sie ein längeres Gespräch über Schokoladenkonsum ohne schlechtes Gewissen und ließ sich sogar eine Quittung für ihren Einkauf geben, die sie in ihre Brieftasche steckte. Man konnte schließlich nie wissen, wann die Polizei ein Alibi verlangte, dachte sie säuerlich. Es schien das Beste, über jeden ihrer Schritte einen Nachweis zu führen und dafür zu sorgen, dass die Menschen, deren Geschäfte man unterwegs aufsuchte, sich später lebhaft daran erinnerten. Und was das Pain au Chocolat betraf: Was waren schon ein paar überflüssige Kalorien, gemessen an dem Unterfangen, die Behauptung ihrer Unschuld zu untermauern?

Als sie wieder aufbrach, erreichte sie nach kurzer Zeit den Kreisverkehr, der sie zur A30 brachte. Von dort aus war es nicht mehr weit, und die Strecke war ihr vertraut. Sie umfuhr Redruth, bog einmal falsch ab, wendete aber gleich wieder und gelangte schließlich zu der Kreuzung der B3297 und eines namenlosen Sträßchens, wo ein Hinweisschild in Richtung Carnkie wies.

Daidre parkte ihren Wagen auf der unkrautüberwucherten Kiesfläche, wo die beiden Straßen aufeinandertrafen, verschränkte die Hände oben auf dem Lenkrad und bettete das Kinn darauf. Sie sah auf das frühlingsgrüne Land hinaus, das in der Ferne von der See begrenzt und in regelmäßigen Abständen von verfallenen Türmen unterbrochen war, wie man sie ähnlich auch in Irland fand die Domizile von Poeten, Eremiten und Mystikern. Hier repräsentierten die Türme indessen das, was von Cornwalls großer Bergbaugeschichte übrig geblieben war: riesige Maschinenhäuser, die über einem unterirdischen Netzwerk aus Tunneln, Gruben und Höhlen standen. Die Minen hatten einst Zinn und Silber, Kupfer und Blei, Arsen und Wolfram hervorgebracht, und die Häuser hatten die Maschinen beherbergt, mit denen jene Minen betrieben wurden: Pumpen, die die Schächte vom Grundwasser befreiten, und Räderwerke, die sowohl das Erz als auch das überflüssige Gestein in Förderkörben an die Oberfläche brachten.

Genau wie die Zigeunerwagen taugten auch die Maschinenhäuser heutzutage nur noch als Motive für Ansichtskarten. Doch einst waren sie die Lebensgrundlage der Menschen hier gewesen und die Türme Sinnbilder der vielen Todesopfer, die sie gefordert hatten. Sie standen überall im Westen Cornwalls, und vor allem entlang der Küste gab es sie in erstaunlicher Dichte. Meistens fand man sie paarweise: der Turm des Maschinenhauses, drei oder vier Stockwerke hoch und heute in aller Regel unbedacht, mit schmalen Bogenfenstern, möglichst klein, um die Tragfähigkeit des Bauwerks nicht zu schmälern, und daneben und oft noch höher der Schornstein, der einst graue Rauchwolken in den Himmel geschleudert hatte. Jetzt boten sowohl Maschinenhäuser als auch Schornsteine in den oberen Regionen Nistplätze für Vögel und weiter unten für Haselmäuse. In den Fugen und Ritzen wuchs Storchschnabel mit seinen kecken, zart lilafarbenen Blüten, die sich mit den gelben Ranken des Kreuzkrauts vermischten, während darüber roter Baldrian stand.

Daidre sah all dies und sah es doch nicht. Sie ertappte sich dabei, dass sie an einen völlig anderen Ort dachte, eine Küste gegenüber derjenigen, auf welche sie jetzt blickte.

Unweit von Lamorna Cove, hatte er gesagt. Das Haus und das dazugehörige Anwesen hießen beide Howenstow. Offensichtlich verlegen hatte er eingeräumt, er habe keine Ahnung, woher dieser Name stamme, und aus dieser Unwissenheit hatte sie zu Recht oder zu Unrecht das Ausmaß der Leichtigkeit abzulesen geglaubt, mit welcher er das Leben annahm, in das er hineingeboren worden war. Seit über zweihundertundfünfzig Jahren gehörten das Land und das Haus seiner Familie, und anscheinend hatten sie nie mehr wissen müssen als nur, dass es ihr Eigentum war: ein weitläufiger Barockbau, den irgendein Vorfahr durch Heirat erworben hatte. Er war der jüngste Sohn eines Barons gewesen und hatte das einzige Kind eines Earls geehelicht.

»Meine Mutter könnte Ihnen wahrscheinlich alles über den alten Kasten erzählen«, hatte er erzählt. »Meine Schwester auch. Aber mein Bruder und ich… Ich fürchte, wir sind Banausen, wenn es um unsere Familiengeschichte geht. Ohne Judith — das ist meine Schwester — wüsste ich vermutlich nicht einmal die Namen meiner Urgroßeltern. Und was ist mit Ihnen?«

»Ich nehme an, ich muss irgendwann Urgroßeltern gehabt haben«, hatte sie geantwortet. »Es sei denn, ich bin wie Venus aus der Muschel emporgestiegen. Aber das ist wohl eher unwahrscheinlich. An einen so spektakulären Auftritt könnte ich mich doch bestimmt erinnern.«

Wie mochte es sein?, fragte sie sich. Sie stellte sich seine Mutter in einem riesigen goldenen Bett vor, Dienstmädchen zu beiden Seiten, die ihr das Gesicht mit Tüchern abtupften, die in Rosenwasser getaucht waren, während sie in den Wehen lag, um den Stammhalter zur Welt zu bringen. Ein Feuerwerk zur Verkündung der guten Nachricht, Pächter, die ehrerbietig ihre Kappen lüpften und Fässer mit selbst gebrautem Bier zum Herrenhaus rollten, sobald die Kunde sich verbreitete. Sie wusste, diese Bilder waren völlig absurd, eine Mischung aus Thomas Hardy und Monty Python, aber so dämlich sie ihr auch vorkamen, sie konnte sie einfach nicht abschütteln.

Sie griff nach der Postkarte, die sie mitgenommen hatte. Als sie ausstieg, spürte sie die kalte Brise.

Sie fand einen geeigneten Stein gleich am Straßenrand der B3297. Er war nicht zu schwer und steckte kaum zur Hälfte in der Erde, sodass sie ihn leicht herauslösen konnte. Sie trug ihn zurück zu dem Dreieck zwischen der Landstraße und dem schmaleren Fahrweg und legte ihn dort ab. Dann hob sie eine Ecke an und schob die Postkarte mit dem Zigeunerwagen darunter. Erst als das getan war, war sie imstande, ihre Fahrt fortzusetzen.

17

»Du verstehst überhaupt nichts, Granddad. Kein Wunder, dass dich alle irgendwann verlassen haben«, hatte sie ihm noch entgegengeschleudert, ehe sie in Casvelyn aus dem Auto gestiegen war. Sie hatte eher traurig als wütend geklungen, und das hatte es Selevan Penrule unmöglich gemacht, entrüstet zu reagieren. Er hätte nur zu gerne ein rhetorisches Geschoss auf sie abgefeuert und mit seiner langen Erfahrung in verbaler Kriegsführung genüsslich zugesehen, wie es sein Ziel fand. Aber irgendetwas in ihren Augen hatte ihn daran gehindert trotz der Kränkung, die ihre Worte bei ihm verursacht hatten. Vielleicht war er ja aus der Übung, dachte er. Entweder das oder das Mädchen fing an, ihm gar zu sehr ans Herz zu wachsen. Diese Vorstellung gefiel ihm ganz und gar nicht.

Er hatte sie auf der Fahrt zum Clean-Barrel-Surfshop zur Rede gestellt, und er war stolz auf sich gewesen, dass er einen ganzen Tag lang der Versuchung widerstanden hatte, sie sich gleich vorzuknöpfen. Er war kein Freund von Geheimnissen, und Lügen verabscheute er erst recht. Dass Tammy Erstere hütete und Letztere benutzte, machte ihm schwerer zu schaffen, als er es sich eingestehen wollte. Denn trotz ihrer Eigenarten in Bezug auf Kleidung, Benehmen, Ernährung und Absichten mochte er das Mädchen. Und er wollte nur zu gerne glauben, dass sie anders war als die übrigen Teenager dieser Welt, diese verschlagenen Halbwüchsigen, die ein heimliches Zweitleben führten, das von Sex, Drogen und körperlicher Verstümmelung bestimmt zu sein schien.