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Er hatte tatsächlich geglaubt, dass sie sich von ihren Altersgenossen unterschied. Doch dann hatte er beim Beziehen der Betten den Umschlag unter ihrer Matratze gefunden, und beim Lesen des Inhalts hatte er erkennen müssen, dass sie auch nicht anders war als die anderen. Alle Fortschritte, die er mit ihr gemacht zu haben glaubte, waren nur Lug und Trug gewesen.

In einer anderen Situation hätte dieses Wissen ihn nicht weiter belastet. Nichts würde überstürzt passieren, also würde ihm Zeit bleiben, seine Bemühungen zu verdoppeln und ihr seinen Willen aufzuzwingen… und den Willen ihrer Eltern. Das Problem dabei war allerdings, dass Tammys Mutter nicht gerade für ihre Geduld berühmt war. Sie wollte Ergebnisse sehen, und wenn diese sich nicht binnen Kurzem einstellten, wusste Selevan, wäre Tammys Zeit in Cornwall schon bald vorüber.

Also hatte er während der Fahrt den Umschlag hervorgezogen, den er unter ihrer Matratze gefunden hatte, und aufs Armaturenbrett gelegt. Tammy hatte erst den Umschlag angesehen, dann ihren Großvater. Und schließlich war dieses gottverdammte Mädchen in die Offensive gegangen: »Du durchwühlst also meine Sachen, wenn ich nicht zu Hause bin.« Sie hatte zu Tode gekränkt geklungen. »Das hast du mit Tante Nan auch getan, nicht wahr?«

Er gedachte nicht, sich auf eine Debatte über seine Tochter und den Taugenichts einzulassen, mit dem sie seit zweiundzwanzig Jahren verheiratet war — angeblich glücklich. »Das hier hat nichts mit deiner Tante zu tun«, hatte er entgegnet. »Tammy, was soll dieser Blödsinn?«

»Du kannst es einfach nicht akzeptieren, wenn jemand anderer Ansicht ist als du, Granddad. Und das ist so typisch für dich! Wenn irgendetwas nicht Teil deines Erfahrungshorizontes ist, dann ist es nicht wert, zur Kenntnis genommen zu werden. Oder es ist schlecht. Oder sogar böse. Aber das hier ist nicht böse. Es ist das, was ich will, und wenn du und Dad und Mum nicht einsehen könnt, dass es die Antwort ist, die diese ganze verdammte Welt jetzt braucht, damit sie eben aufhört, eine verdammte Welt zu sein…« Sie hatte sich den Umschlag geschnappt und ihn in ihren Rucksack gestopft. Er hatte damit geliebäugelt, ihn ihr zu entreißen und aus dem Fenster zu werfen, aber was hätte das genützt? Wo dieser eine Umschlag herkam, da waren auch noch weitere.

Als sie wieder gesprochen hatte, war ihre Stimme verändert gewesen. Sie hatte erschüttert geklungen — das Opfer eines Verrats. »Ich dachte, du würdest mich verstehen. Oder zumindest habe ich dich nicht für jemanden gehalten, der in den Sachen anderer Leute herumschnüffelt.«

Das hatte Selevan auf die Palme gebracht. Er war doch schließlich derjenige gewesen, der von ihr verraten worden war, oder etwa nicht?  Sie hatte den Brief vor ihm versteckt, nicht andersherum. Wenn ihre Mutter aus Afrika anrief und sie über Tammy sprachen, dann verheimlichte er das ja auch nicht vor ihr, und sie verwendeten am Telefon auch keine Codewörter. Also war ihre Empörung völlig unangebracht.

»Jetzt wirst du mir mal zuhören«, hatte er angehoben.

»Das werde ich nicht«, hatte sie leise erwidert. »Nicht bis du mir auch zuhörst.«

Und dabei war es geblieben, bis sie in Casvelyn die Autotür geöffnet hatte. Sie hatte ihm ihre Abschiedsworte entgegengeschleudert und war zum Laden hinübergestapft. Der Selevan von früher wäre ihr gefolgt. Keines seiner Kinder hatte je so mit ihm gesprochen, ohne umgehend den Riemen, den Gürtel oder seine Hand zu spüren. Aber das Problem war: Tammy war nicht sein Kind. Eine verletzte Generation stand zwischen ihnen, und sie wussten beide, wer die Wunden geschlagen hatte.

Also hatte er sie gehen lassen und war nach Sea Dreams zurückgefahren, sein Herz bleischwer. Er hatte den Caravan geputzt und sich in der Hoffnung, sein Magen würde aufhören zu schlingern, wenn er ihn füllte, ein zweites Frühstück aus weißen Bohnen auf Toast zubereitet. Er hatte den Teller zum Tisch hinübergetragen und gegessen, aber nichts hatte das kranke Gefühl in ihm verdrängen können.

Eine zuschlagende Autotür lenkte Selevan schließlich von seinem Kummer ab. Er blickte aus dem Fenster und sah, wie Jago Reeth gerade die Tür zu seinem Caravan aufschloss, als Madlyn Angarrack auf ihn zutrat. Jago stieg die Stufen wieder hinunter, streckte die Hände aus und nahm Madlyn in die Arme, tätschelte erst ihren Rücken, dann den Kopf. Madlyn trocknete sich an Jagos Flanellärmel die Tränen, und dann traten sie gemeinsam ins Innere des Caravans.

Der Anblick versetzte Selevan einen schmerzhaften Stich. Er verstand einfach nicht, wie Jago Reeth schaffte, was ihm selbst so unmöglich zu sein schien. Jago war ein Mann, dem junge Leute sich anvertrauten. Offensichtlich hatte er eine bestimmte Art, Jugendlichen zuzuhören und auf sie einzugehen, die Selevan zu lernen versäumt hatte.

Aber es war ja auch verdammt einfach, wenn es sich nicht um die eigenen Verwandten handelte. Hatte Jago das nicht selbst eingeräumt?

Egal. Selevan wusste nur, dass sein Freund womöglich den Schlüssel zu der einen, zu der einzigen vernünftigen Unterhaltung zwischen ihm und seiner Enkelin in Händen hielt. Er musste herausfinden, was genau dieser Schlüssel war, und zwar noch ehe Tammys Mutter die Reißleine zog und Tammy weiß Gott wohin schickte, um sie zu kurieren.

Er wartete, bis Madlyn Angarrack wieder gegangen war — genau dreiundvierzig endlose Minuten lang. Dann beeilte er sich, zu Jagos Caravan hinüberzukommen, und klopfte heftig an die Tür. Als Jago öffnete, erkannte Selevan mit einem Blick, dass sein Freund im Begriff war zu gehen. Er hatte bereits seine Jacke an, ein Stirnband, das ihm das lange Haar aus dem Gesicht hielt, und die zerbrochene Brille auf der Nase, die er sonst nur bei LiquidEarth trug. Selevan wollte sich schon entschuldigen, aber der andere Mann unterbrach ihn und bat ihn herein.

»Du hast etwas auf dem Herzen«, bemerkte er. »Das sehe ich, ohne dass du es mir sagen musst. Lass mich nur eben…« Jago griff zum Telefon und tippte eine Nummer ein. Anscheinend erreichte er lediglich einen Anrufbeantworter, denn er sagte: »Lew, ich bin's. Ich komme ein bisschen später. Ich hab hier zu Hause so was wie einen Notfall. Madlyn ist übrigens vorbeigekommen. Sie war ein bisschen durcheinander, aber ich schätze, jetzt geht's wieder. Im Wärmeschrank steht ein Board, das du dir ansehen solltest, okay?« Und dann legte er auf.

Selevan beobachtete seine Bewegungen. Die Parkinson-Symptome waren an diesem Morgen schlimmer als sonst. Entweder das, oder Jagos Medikamente wirkten noch nicht. Alt zu werden, war kein Spaß, das stand mal fest. Aber alt und krank zusammen das war richtig übel.

Schweigend zog er die seltsame Halskette hervor, die er Tammy tags zuvor abgeknöpft hatte. Er legte sie auf den Tisch, und als Jago sich neben ihn auf die Bank setzte, eröffnete er ihm: »Das hab ich bei ihr gefunden. Sie hatte es um den Hals. Das "M" steht für Maria, sagt sie. Ist das denn zu glauben? Sagt mir das einfach so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.«

Jago nahm die Kette in die Hand und betrachtete sie. »Ein Skapulier«, murmelte er.

»Genau! So hat sie es genannt! Skapulier. Aber das "M" steht für Maria. Das macht mir Sorgen.«

Jago nickte, aber Selevan sah auch ein Lächeln in seinen Mundwinkeln lauern. Das ärgerte ihn. Jago hatte gut lachen! Es war ja nicht seine Enkelin, die mit einem "M" für Maria um den Hals herumlief.

»Irgendetwas ist irgendwann mit dem Mädchen passiert«, sagte er. »Das ist die einzige Erklärung für den Zustand, in dem es sich jetzt befindet. Afrika ist daran schuld. All die Eingeborenenfrauen, die es da gesehen hat, die mit baumelnden Brüsten über die Straße laufen. Ist doch kein Wunder, dass es da ganz durcheinander ist.«

»Heilige Muttergottes«, sagte Jago.

»Das kannst du laut sagen«, schnaubte Selevan.