Jago fing an zu lachen, laut und herzhaft, und als Selevan entrüstet auffuhr, winkte Jago beschwichtigend ab: »Jetzt reg dich mal ab, Kumpel! Du hast doch selber gesagt, das "M" steht für Maria. Auf einem Skapulier steht das "M" für Maria, die Muttergottes. Das hier ist ein religiöser Gegenstand. So etwas tragen Katholiken. An manchen hängt auch ein Bild von Jesus. Oder ein Heiliger. St. Sowieso von Sowieso. Es ist ein Frömmigkeitssymbol.«
»Verdammt«, murmelte Selevan. »Das wird ja immer vertrackter.« Tammys Mutter träfe der Schlag, so viel war sicher. Ein Grund mehr, Tammys Sachen zu packen und sie vor die Tür zu setzen. In Sally Joys Vorstellung rangierten Katholiken auf der Liste der verachtungswürdigsten Menschen auf Platz zwei gleich hinter Terroristen. »Wenn es wenigstens St. Georg und sein Drache wären«, brummelte er. Das hätte man zumindest patriotisch deuten können.
»St. Georg wirst du auf einem von diesen Dingern wohl kaum finden«, entgegnete Jago und ließ das Skapulier von seinem Finger baumeln. »Drachen sind schließlich Fabelwesen. Und darum ist auch St. Georg selbst mit einem dicken Fragezeichen behaftet. Aber grundsätzlich sind sie genau dazu da: Der Gläubige oder im Fall deiner Tammy die Gläubige, die einen bestimmten Heiligen besonders verehrt, trägt so ein Ding um den Hals, vermutlich um sich selbst ein bisschen heiliger zu fühlen.«
»Die verdammten Politiker sind schuld«, behauptete Selevan finster. »Sie haben die Welt zu dem gemacht, was sie heute ist, und darum versucht das Mädchen, eine Heilige zu werden. Sich auf das Ende der Welt vorzubereiten. Und lässt sich das von nichts und niemandem ausreden.«
»Hat sie das behauptet?«
»Hä?« Selevan griff nach dem Skapulier und stopfte es zurück in die Brusttasche seines Hemdes. »Sie sagt, sie will ein Leben im Gebet führen. Das waren ihre Worte. "Ich will im Gebet leben, Granddad. Ich glaube, das ist es, was jeder anstreben sollte." Als würde es helfen, auch nur ein einziges Problem auf der Welt zu lösen, wenn man sich irgendwo in eine Höhle setzt und Gras isst und einmal pro Woche seine eigene Pisse trinkt.«
»So sehen ihre Pläne aus?«
»Ach, was weiß denn ich, wie ihre Scheißpläne aussehen! Niemand weiß das, und das gilt ganz besonders für das Mädchen selbst. Siehst du nicht, wie es läuft? Sie hört von irgendeiner Religion, der sie sich anschließen kann, und das tut sie dann auch gleich, weil genau diese eine Religion anders als alle anderen diejenige ist, die die Welt retten wird.«
Jago wirkte versonnen. Selevan hoffte inständig, sein Freund würde eine Lösung für sein Problem mit Tammy zum Besten geben, doch Jago schwieg beharrlich, also fuhr Selevan fort: »Ich komme einfach nicht zu ihr durch. Nicht einmal ansatzweise. Unter ihrem Bett hab ich einen Brief gefunden. Sie haben ihr geschrieben, sie solle vorbeikommen und sich alles ansehen. Führ ein Gespräch mit uns, damit wir dir auf den Zahn fühlen und sehen können, ob du hier reinpasst und ob wir dich haben wollen und was sonst noch. Ich habe sie darauf angesprochen, und da ist sie fuchsteufelswild geworden, weil ich angeblich in ihren Sachen rumgeschnüffelt habe.«
Jago kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Stimmt ja auch«, sagte er.
»Was?«
»Du hast in ihren Sachen geschnüffelt, oder etwa nicht?«
»Musste ich doch! Wenn nicht, wäre ihre Mutter wieder hinter mir her gewesen wie der Teufel hinter der armen Seele. Sie sagt immer: "Wir müssen sie zur Vernunft bringen. Irgendjemand muss sie zur Vernunft bringen, ehe es zu spät ist."«
»Genau das ist das Problem«, wandte Jago ein. »Das ist genau der Punkt, wo ihr alle euch irrt.«
»Wie meinst du das?« Selevan sah seinen Freund mit großen Augen an. Wenn er die Sache mit Tammy falsch angepackt hatte, dann wollte er auf der Stelle erfahren, wie er es richtig machen konnte. Das war schließlich der Grund, warum er zu Jago gekommen war.
»Das Furchtbare mit diesen jungen Leute ist, dass man ihnen zugestehen muss, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen«, erklärte Jago.
»Aber…«
»Lass mich ausreden! Es gehört zum Erwachsenwerden dazu. Sie treffen eine Entscheidung, machen Fehler, und wenn nicht sofort jemand angerannt kommt wie die Feuerwehr, um sie vor den Folgen zu bewahren, dann lernen sie sogar etwas daraus. Es ist nicht die Aufgabe von Eltern oder Großeltern, ihnen genau diese Erfahrungen vorzuenthalten, aus denen sie lernen können. Eltern und Großeltern sind einzig und allein dazu da, ihnen am Ende der ganzen Geschichte zur Seite zu stehen.«
Selevan lehnte sich nachdenklich zurück. Je länger er darüber nachdachte, umso eher stimmte er seinem Freund sogar zu. Allerdings war Zustimmung eine Sache des Intellekts. Sie hatte nichts mit dem Herzen zu tun. Jagos Lebenssituation ohne eigene Kinder oder Enkel machte es ihm leicht, dieser bewundernswerten Philosophie anzuhängen. Es erklärte auch, warum die jungen Leute sich so gern mit ihm unterhielten. Sie redeten, und er hörte zu. Wahrscheinlich war es so ähnlich, als vertraute man seine Geheimnisse einer Mauer an. Aber wo lag der Sinn, wenn die Mauer nicht antwortete: "Halt mal! Du bist im Begriff, dich zum Narren zu machen"? Oder: "Du triffst die falsche Wahl, verdammt!" Oder: "Hör mir zu, denn ich lebe schon ungefähr sechzig Jahre länger als du, und diese Jahre sind eine Menge wert, denn wozu hätte ich sie sonst gelebt haben sollen"? Und davon abgesehen: Hatten Eltern und Großeltern nicht das Recht, ihre Nachkommen zur Räson zu rufen? Ganz zu schweigen von dem Recht zu entscheiden, was diese Nachkommen mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollten. Das war es doch, was ihm selbst passiert war. Vielleicht war es nicht das gewesen, was ihm gefallen, was er gewollt hatte oder was er sich je selbst ausgesucht hätte; aber war er nicht ein besserer und stärkerer Mann geworden, weil er seine Träume von der Navy für ein pflichterfülltes Leben auf der Farm begraben hatte?
Jago beobachtete ihn, eine buschige Braue über den Rand seiner ramponierten Brille hochgezogen. Sein Ausdruck war unmissverständlich: Er wusste genau, was Selevan von seinen Zuhörerqualitäten hielt, und er würde dieser Einschätzung nicht widersprechen.
»Es steckt ein bisschen mehr dahinter, Kumpel, ganz gleich was du denkst. Wenn du sie erst mal kennenlernst, liegen sie dir irgendwann auch am Herzen, und es ist grässlich mitanzusehen, wenn sie die falschen Entscheidungen treffen. Aber wenn man jung ist, hört man eben nicht auf gute Ratschläge. Oder hast du das etwa getan?«
Selevan senkte den Blick. Denn genau das war das Haar in der Suppe seines Lebens, wenn man die Dinge genau betrachtete: Er hatte die guten Ratschläge gehört. Er hatte ihnen Folge geleistet. Und diese Entscheidung sein Leben lang bereut.
»Verdammter Mist«, seufzte er. Er vergrub das Gesicht in den Händen.
»Ja, genau«, stimmte sein Freund Jago Reeth zu.
Bea hatte den Tag nicht gerade mit strahlender Laune begonnen, und die Dinge besserten sich auch nicht während ihrer Besprechung mit DS Havers von New Scotland Yard. Als die Beamtin in Casvelyn eingetroffen war, hatte Bea ihr aufgetragen, sich im Salthouse Inn einzumieten und genauestens in Erfahrung zu bringen, was Thomas Lynley bislang über Daidre Trahair herausgefunden hatte. Sie wusste, DS Hackvers hatte in London lange mit Lynley zusammengearbeitet, und wenn irgendjemand in der Lage war, dem Mann etwas zu entlocken, so hatte Bea geglaubt, dann war es Barbara Havers. Aber "anscheinend sauber" war alles, was Havers in Bezug auf Lynleys Recherchen über die Vergangenheit der mysteriösen Tierärztin zu berichten wusste. Und das verleitete Hannaford dazu, ihre eigene Sichtweise in dieser ganzen Angelegenheit in Zweifel zu ziehen. Immerhin hatte sie höchstpersönlich zugestimmt, als Assistant Commissioner Sir David Hillier von Scotckland Yard ihr angeboten hatte, Lynleys einstige Partnerin leihweise vorbeizuschicken, um bei den Mordermittlungen auszuhelfen. Doch auf ihre Frage: »Was wissen wir von Superintendent Lynley über Dr. Trahair?«, hatte sie lediglich zu hören bekommen: »Er sagt, so weit ist alles sauber, aber er macht weiter.« Und das war es nicht, was sie zu hören gehofft hatte. Es hatte sie ins Grübeln gebracht. Über Loyalitäten und über die Frage, wo diese liegen mochten.