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Sie hatte selbst mit Lynley gesprochen. Er hatte über seinen Besuch in Pengelly Cove am vorangegangenen Nachmittag berichtet, und sie hatte mit Argwohn registriert, dass sein Interesse jetzt in erster Linie der Kerne-Familie galt. Zwar würde früher oder später auch bei Adventures Unlimited das Unterste zuoberst gekehrt werden müssen, aber Lynleys Nachforschungen über die Kernes würden sein Interesse an Daidre Trahair nicht wachhalten, dabei war es einzig und allein das, was Bea von ihm verlangte. Die Tierärztin hatte gelogen, das stand außer Frage. Und bedachte man, wie sie Lynley angeschaut hatte, als Bea die beiden zusammen gesehen hatte — mit einer Mischung aus Mitgefühl, Bewunderung und Begierde, schien Lynley die besten Chancen zu haben, Dr. Trahairs Lügen und Wahrheiten auseinanderzudividieren. Doch jetzt war Bea sich nicht mehr so sicher.

Während sie mit Barbara Havers sprach, wurde ihre Laune daher noch finsterer, als sie es beim Aufwachen bereits gewesen war, und sie hätte nicht geglaubt, dass das möglich sein würde. Denn sie war mit Petes Fragen und Bemerkungen vom Vortag aufgewacht, und das hieß, sie war genau so aufgewacht, wie sie eingeschlafen war. Warum hasst du ihn so sehr… Er liebt dich doch.

Ganz offensichtlich war es höchste Zeit für einen neuen Internetflirt. Wenn sie doch nur die Zeit fände, die es brauchte, um zu fischen, zu wählen, zu kontaktieren, zu entscheiden, ob das entsprechende Individuum einen Abend wert war, und diesen Abend dann auch noch freizuschaufeln! Und dann… Was hätte sie denn davon? Mit wie vielen Fröschen sollte sie denn noch essen, ein Glas Wein oder eine Tasse Kaffee trinken gehen, bis sie einen fand, der Prinzen- und nicht nur amphibische Qualitäten ahnen ließ?

Hunderte, so schien es. Tausende. Und dabei war sie nicht einmal sicher, ob sie überhaupt eine neue Beziehung wollte. Sie, Pete und die Hunde kamen doch wunderbar allein zurecht.

Und so kam es, als Bea Barbara Havers an der Magnettafel gegenüberstand, wo sie die anstehenden Aufgaben des Tages durchgingen, dass sie die Beamtin von Scotland Yard einer kritischen Musterung unterzog. Die Musterung hatte mehr mit ihrer professionellen Einstellung als mit ihrem modischen Geschmack zu tun, der gruseliger war, als Bea es bei einer Frau je für möglich gehalten hätte. Heute trug DS Havers einen ausgeleierten Seemannspulli über einem hochgeschlossenen T-Shirt mit einem Kaffeefleck am Bündchen, darunter eine olivfarbene Tweedhose, die selbst eine bessere Figur unansehnlich hätte erscheinen lassen — wenigstens zwei Zentimeter zu kurz und schätzungsweise zwölf Jahre zu alt, und die bereits bekannten knöchelhohen Turnschuhe an den Füßen. Sie sah aus wie eine obdachlose Flüchtlingsfrau aus einem Krisengebiet, mit Kleidung am Leib, die selbst die Heilsarmee aussortiert hätte.

Bea versuchte, all das zu ignorieren. »Ich habe das Gefühl, dass Superintendent Lynley sich in Sachen Dr. Trahair nicht wirklich ins Zeug legt«, eröffnete sie ihr. »Was meinen Sie, Sergeant?« Sie behielt Havers genau im Auge, um deren Antwort taxieren zu können.

»Könnte sein«, räumte Havers freimütig ein. »Wenn man bedenkt, was er hinter sich hat, ist es nur allzu verständlich, dass er nicht hundertprozentig bei der Sache ist. Aber wenn sie etwas mit dem Tod dieses Jungen zu tun haben sollte und er dahinterkommt, dann wird er sie sich vornehmen. Darauf können Sie sich verlassen.«

»Wollen Sie damit sagen, ich soll ihm freie Hand lassen, an diese Sache so heranzugehen, wie er es für richtig hält?«

Havers antwortete nicht sofort. Sie betrachtete die Tafel. Sorgfältiges Nachdenken war zumindest ein kleiner Hinweis auf ihre Prioritäten, das musste Bea ihr zugute halten.

»Ich glaube, er wird klarkommen«, sagte Havers schließlich. »Angesichts seiner Umstände wird er nicht zulassen, dass irgendjemand ungeschoren mit einem Mord davonkommt. Falls Sie verstehen, was ich meine.«

Natürlich. Gerade diese Schwäche — "seine Umstände", hatte Havers es genannt — machte wohl wirklich einen Mann aus ihm, der alles tun würde, um zu verhindern, dass einem anderen Menschen das Gleiche passierte wie ihm selbst. Und davon abgesehen, war gerade seine Anfälligkeit vielleicht von Vorteil, denn eine verletzliche Person mochte eine andere dazu verleiten, in ihrer Gegenwart Fehler zu machen. Und diese Fehler sollte vorzugsweise Dr. Trahair machen. Sie hatte bereits einen begangen, und andere würden folgen.

»Na schön«, lenkte Bea ein. »Kommen Sie mit. Wir haben hier einen Mann in der Stadt, der wegen schwerer Körperverletzung gesessen hat. Die Sache ist ein paar Jahre her. Er hat dem Richter vorgejammert, der Alkohol wäre schuld gewesen, aber da sein Opfer seit dieser Geschichte querschnittgelähmt ist…«

»Ach du Schande!«, warf Havers ein.

»… hat der Richter ihn zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Inzwischen ist er wieder draußen mitsamt seinem Jähzorn und seiner Neigung zum Suff. Und er kannte Santo Kerne. Irgendwer hat dem Jungen kurz vor seinem Tod ein blaues Auge verpasst. Zugegeben, es war nicht die Schlägerei, die zu seinem Tod geführt hat, aber wir sollten diesen Kerl trotzdem gründlich unter die Lupe nehmen.«

Will Mendick arbeitete im Blue-Star-Supermarkt, jenem ultramodernen Flachbau, der an seinem Standort an der Kreuzung Belle Vue Lane und St. Mevan Crescent völlig fehl am Platze wirkte. Während der Fahrt hatte Bea Barbara Havers auf das nahe gelegene Adventures Unlimited aufmerksam gemacht, das unübersehbar oben auf dem Hügel thronte. Ebenfalls in der Nähe lag die Bäckerei Casvelyn of Cornwall, und als sie auf dem Parkplatz des Supermarktes ausgestiegen waren, hatte die Morgenbrise den Duft frisch gebackener Pasteten zu ihnen herübergetragen. Barbara Havers hatte gegen das verführerische Aroma angekämpft, indem sie sich eine Zigarette ansteckte. Gierig hatte sie daran gezogen, während sie um das Gebäude herumgegangen waren, und sie hatte sie halb aufgeraucht und dann weggeschnippt, ehe sie das Geschäft betraten.

In einer extrem optimistischen Anwandlung, was den nahenden Frühling betraf, hatte die Marktleitung die Heizung abgeschaltet, darum war es in dem Gebäude eisig kalt. Zu dieser Tageszeit war nicht viel Kundschaft anwesend, und nur eine der sechs Kassen hatte geöffnet. Dort erkundigten sich Bea und Sergeant Havers und wurden in den hinteren Teil des Gebäudes verwiesen. Hier trennte eine Doppelschwingtür das Lager vom Geschäft. "Zutritt verboten", stand dort angeschlagen, und: "Nur für Personals"

Bea trat ungerührt hindurch und hielt ihren Dienstausweis bereit. Einen unrasierten Mann, der im Begriff war, die Toilette aufzusuchen, hielt sie mit dem knappen Zuruf »Polizei!« auf. Er nahm nicht annähernd in dem Maße Haltung an, wie Bea es sich gewünscht hätte, schien aber zumindest kooperativ. Sie fragte nach Will Mendick.

»Draußen, nehm ich an«, lautete die Antwort, und so schlugen sie den Weg ein, den sie gekommen waren. Diesmal durchmaßen sie das Gebäude allerdings durch einen dämmrigen Gang, wo turmhohe Regale mit Papierprodukten und Konserven diversen Inhalts aufragten: genug Kartons mit Schriftzügen verschiedener Junkfood-Marken, um die Fettleibigkeit ganzer Generationen sicherzustellen.

Auf der Südseite des Gebäudes befand sich eine Laderampe voller Warenpaletten, die gerade von einem riesigen Lastwagen gewuchtet wurden. Bea hoffte schon, Will Mendick hier zu finden, aber eine neuerliche Nachfrage führte sie zu einer Reihe Müllcontainer am hinteren Ende der Rampe. Dort entdeckte sie einen jungen Mann, der aussortiertes Gemüse und andere Waren in einen schwarzen Müllbeutel stopfte — es handelte sich ganz offenkundig um Will Mendick bei einer jener subversiven Aktionen, für die Santo Kerne das merkwürdige T-Shirt-Logo entworfen hatte. Der junge Mann kämpfte gegen die Möwen an. Über ihm und um ihn herum flatterte es unablässig. Manche kamen ihm so nah, als wollten sie ihn aus ihrem Revier verjagen. Bea kam es vor wie eine Szene aus einem Hitchcock-Film.