Das Gemetzel hatte kaum zehn Atemzüge gedauert. Nodon sah zu Gonvalon zurück. Der Schwertmeister würde allein zurechtkommen. Die Menschenkinder behinderten sich mit ihren langen Speeren gegenseitig. Nun war es wichtiger, dafür zu sorgen, dass der verbliebene Wächter auf dem Turm keine Verstärkung herbeirief.
Entschlossen stürmte der Elf die Straße hinauf, bis er das Ende der Gartenmauern erreichte. Noch immer wurden brennende Strohballen den Abhang hinabgeschleudert. Die Aufmerksamkeit der meisten Wachen war ganz auf die Felszunge gelenkt. Ohne zu zögern, lief Nodon über die freie Fläche vor dem Turm. Der Wachposten oben hatte ihn kommen sehen. Nodon hörte, wie die Falltür zur Turmplattform zuschlug. Er hielt sich nicht damit auf, die Leiter zu nehmen.
Der Turm war aus großen, grob verfugten Steinquadern errichtet. Ohne Mühe fanden Nodons Finger Halt. Er kletterte bis zur Brüstung. Dort stand der Letzte der Turmwächter auf der Falltür und starrte auf seine Füße hinab. So ein Idiot! Lautlos schwang sich der Elf über die Brüstung und enthauptete den Menschensohn, der nicht einmal mitbekam, auf welchem Weg der Tod zu ihm gekommen war.
Nodon rollte den Toten gerade von der Falltür, um sie zu öffnen, als ihn ein Geräusch innehalten ließ. Da war wieder das metallische Klirren. Geduckt schlich er zu der Seite der Brustwehr, die dem Weltenmund zugewandt war, und spähte über den Mauerrand. Weit unten, an der Grenze des Nebels, stand etwas und blickte zu ihm hinauf. Es wusste, dass er da war. Große, bernsteinfarbene Augen sahen ihn aus einer goldenen Raubtierfratze an. Einen Herzschlag lang, dann zog sich das Ungeheuer in den Nebel zurück. Nodon ahnte, dass ihn diese Bestie so leicht töten könnte, wie er die Menschenkinder gemordet hatte.
Warum war sie nicht zu ihm heraufgekommen? Er konnte es sich nicht erklären.
»Ich weiß nicht, was du bist«, murmelte er und dachte an die Kralle aus Obsidian, die er nach dem Angriff im Weltenmund aufgehoben hatte. »Aber ich weiß, wer deine fliegenden Diener sind.«
Mit dem Schicksal feilschen
Volodi erwachte von dem Gefühl, beobachtet zu werden. Eine Zeitlang blieb er reglos liegen und lauschte auf den regelmäßigen Atem Quetzallis, die neben ihm zusammengerollt unter der Decke lag. Feuchte, warme Luft drang durch das offene Fenster. Es war noch dunkel. Der melancholische Ruf einer Rohrdommel tönte von den Seen in den Gärten herüber.
Etwas bewegte sich in den Schatten bei der Treppe. Ichtaca, sein Diener, stand dort. Lautlos erhob sich Volodi aus dem Bett. Der Holzboden knarrte unter seinen Schritten. Quetzallis Atmen hatte sich verändert. Sie drehte sich auf die andere Seite. Hatte auch sie etwas bemerkt, und tat sie nur so, als würde sie weiterschlafen?
Volodi folgte dem Zapote die Treppe hinab. »Es tut mir leid, Auserwählter«, flüsterte er. »Ihr werdet zur Schlange berufen.«
»Nein …« Volodi schüttelte noch leicht schlaftrunken den Kopf. »Nein. Es sind noch zehn Tage bis zum nächsten Opfer. Das muss ein Irrtum sein!«
Der kleine Diener schüttelte traurig den Kopf. »Nein, Auserwählter. Ein Priester war hier. Alle Auserwählten werden gerufen. Irgendetwas muss vorgefallen sein. Es kommt nur sehr selten vor, dass die Gefiederte Schlange außerhalb der vorbestimmten Festtage ein Opfer verlangt.«
Wieder hallte der Ruf der Rohrdommel durch den nächtlichen Park. Diesmal klang er in Volodis Ohren wie ein Totenruf. Er schüttelte die dunklen Gedanken ab und streifte die Tunika über, die ihm der Zapote entgegenstreckte. »Kümmere dich um Quetzalli, wenn sie erwacht. Ich bin kurz nach dem Morgengrauen zurück.«
»Gewiss, Auserwählter.«
»Sag nicht immer Auserwählter zu mir. Ich bin ein Gast in diesen Gärten, hörst du? Ein Gast! Und bis ich auserwählt werde, wird es hoffentlich noch sehr lange dauern.« Mit diesen Worten verließ er das kleine Haus.
Den Weg durch den Garten kannte er inzwischen gut. Irgendwo hinter den Bäumen erklangen Schreie. Die Jaguarmänner waren gekommen, einen zu holen, der nicht aus freien Stücken ging, einen, der sich nicht darin fügen wollte, dass die Schlange sie zu einem Extratanz gefordert hatte.
Volodi war in viele Kämpfe gezogen. Und genau wie vor einer Schlacht hatte er nun dieses Gefühl im Bauch. Dieses unruhige Rumoren. Vor einem Kampf hatte er stets die Illusion, dass es an ihm lag, ob er überlebte. An seinem Können, daran, dass er schneller mit der Klinge war als andere oder einfach nur mehr schmutzige Tricks kannte. Aber hier … Was gleich geschehen würde, konnte er nicht beeinflussen. Er hätte auch rebelliert, wenn er nicht genau gewusst hätte, wie aussichtslos es war, sich mit den Jaguarmännern anzulegen.
Bisher hatten die Regeln ihrem Leben an der Schwelle des Todes einen Rest von Halt gegeben. Es war ungerecht, heute, da kein Festtag war, mit einem Leben zahlen zu müssen.
Volodi spuckte in einen Rosenbusch. Was sollte es, das Leben war nun mal ungerecht! Er würde sich davon nicht unterkriegen lassen. Stattdessen begann er trotzig, ein altes Söldnerlied über die Mädchen in den Schenken zu pfeifen.
Er gehörte zu den Ersten, die vor dem weißen Schlangenhaupt eintrafen.
Eirik aus dem Seenland war schon da. Sein langes, blondes Haar und sein Bart troffen vor Nässe. Volodi musste lächeln. »Habe ich dich eigentlich schon mal trocken gesehen?«
»Im Gegensatz zu Hinterwäldlern wie dir lege ich Wert darauf, sauber zu sein«, entgegnete Eirik grinsend. Er hatte sich wieder herausgeputzt wie ein Fürst und trug seine schneeweiße Tunika und den kurzen roten Umhang, der von der goldenen Drachenfibel gehalten wurde. Eiriks Lächeln verflog. »Sauerei, nicht wahr?«
»Geschieht das oft?«, fragte Volodi.
Sein Freund schüttelte den Kopf. »Das ist erst das zweite Mal, dass ich es erlebe. Keiner weiß, warum die Priester das tun. Da muss man einfach durch.«
Schweigend standen sie beieinander und sahen zu, wie die Auserwählten sich versammelten. Zwei der Neuen wurden von den Jaguarmännern gebracht. Es waren zumeist die Neuankömmlinge, die sich noch wehrten. Wer länger im Tempelgarten lebte, hatte eingesehen, dass Widerstand zwecklos war. Als einer der Letzten kam ein junger, schlanker Mann herangeschlendert, dessen Leib über und über mit rotbraunen Mustern bemalt war. Eine stümperhafte, billige Arbeit, das konnte Volodi schon von Weitem sehen. Der Drusnier musste grinsen. Er konnte sich vorstellen, was für einer das war. Ein junger Krieger, der den Geschichten über schnellen Reichtum in Nangog auf den Leim gekrochen war und der sich dann auf einem der Marktplätze in ein Zapotemädchen verguckt hatte.
Also eigentlich genau so einer wie er. Volodi ging ihm ein Stück entgegen. Der Junge war neu. Jemand musste ihm erklären, was ihn hier erwartete. So locker, wie er aussah, hatte er gewiss noch keine Ahnung.
Je näher er ihm kam, desto stärker hatte Volodi das Gefühl, den Mann schon irgendwo einmal gesehen zu haben. Diese katzenhafte Art, mit der er sich bewegte. Diese Ausstrahlung, nichts auf der Welt wirklich ernst zu nehmen.
»Mikayla?«
»Schön dich zu sehen, Feldherr. Der Unsterbliche Aaron macht sich Sorgen um dich.« Sein Wagenlenker blickte zu dem Schlangenschlund, dessen Treppen trügerisch im warmen Licht der Öllämpchen erstrahlten. »Kein sehr netter Ort. Was tun wir hier?«
Bevor Volodi antworten konnte, drang ein dunkler, langanhaltender Ton aus dem Schlangenmaul.
»Wir stellen uns zunächst einmal im Halbkreis auf. Und dann solltest du es vermeiden, einen goldenen Stein in die Hand zu nehmen.«
Mikayla sah ihn fragend an.
»Sie losen aus, wer heute sterben wird. Wer den goldenen Stein aus dem Krug zieht, begegnet der Gefiederten Schlange.«
Der Wagenlenker nickte lächelnd. »Gold ist noch nie an meinen Fingern haften geblieben. Kaum bekomme ich meinen Sold, hat er sich schon wieder in Luft aufgelöst. Das sollte hier von Vorteil sein.«
Wieder ertönte der markerschütternde Hornruf aus dem Schlangenschlund. Dann erschienen die Priester. Volodis Mund war plötzlich ganz trocken. Er ballte die Hände zu Fäusten. Einer der Neuen wimmerte leise. Auch Eirik, der links neben ihm stand, wirkte angespannt.