Alles lief aus dem Ruder. Vielleicht hatte Nodon recht, und sie war eine schlechte Anführerin. Von nun an würde sie die Zügel straffer in die Hand nehmen.
»Bidayn, du wirst dich als Tagelöhner verkleiden und auf einem unserer Beobachtungspunkte Posten beziehen, den ich dir noch benennen werde.«
»Aber wir haben doch schon sichere Orte, von denen wir …«
»Du wirst dich an keinem Platz aufhalten, den Lyvianne kennen kann«, unterbrach Nandalee sie. »Nach allem, was du erzählt hast, scheint dieses Ding ihre Lebenskraft zu stehlen. Vielleicht raubt es ihr auch den Verstand oder den Körper? Wir können also nicht wissen, was hierherkommt, selbst wenn wir glauben, Lyvianne zu sehen.«
Nandalee überlegte, wo die neuen Beobachtungsposten sein sollten. Noch an ihrem Ankunftstag hatten sie sieben Punkte im Umkreis von hundert Schritt Abstand zum Haus der Seidenen festgelegt. Allen war gemeinsam, dass man unbemerkt den einzigen Hauseingang beobachten konnte. Jetzt würden sie auf sehr viel mehr Abstand gehen müssen.
Und als das Lebende Licht sah, dass der Schrecken nicht gebannt war, nahm sie den Mann, von dem das Dunkel nicht weichen wollte, und schloss ihn in einen Stein, damit das Dunkle im Dunkel vergehe. Nandalee wusste, es waren diese verfluchten Worte, die Lyvianne dazu getrieben hatten, das Dunkel zu suchen. Und dieses Dunkel konnte jeden Augenblick hier erscheinen. Konsequent wäre es, sich ganz und gar zurückzuziehen. Aber Drachenelfen ließen einander nicht im Stich. Sollte Lyvianne überleben und hierher zurückkommen, ohne verfolgt zu werden, dann würden sie es sehen und sich ihr vorsichtig nähern, um herauszufinden, ob sie besessen war.
Klüger war es, zunächst einmal vom Schlimmsten auszugehen. Alle ihre Pläne waren Asche, ihnen blieb nur noch, das Unerwartete zu tun, das, was Nandalee bisher als unnötig gefährlich abgelehnt hatte.
Den Anderen ein Beispiel
Eleborn stand am Eingang des Hauses, das ihm die Zapote zugewiesen hatten, und spähte in die Gärten hinaus. Hinter ihm lag sein Leibdiener gefesselt und geknebelt am Boden. Izel war gestern gegangen. Sie war eine Jägerin. Sie musste wieder auf die Märkte der Stadt hinaus, wo sie ihrem ganz besonderen Wild nachstellte. Selbst als ihr Netzwerk aus Lug und Betrug zerrissen war, war sie noch charmant gewesen. Eleborn musste sich eingestehen, dass er sie gemocht hatte. Jetzt, da sie fort war, gab es auch für ihn keinen Grund mehr, noch zu bleiben.
Er wollte Volodi befreien, auch wenn er sich dessen bewusst war, dass ihm das allein nicht gelingen konnte. Der Drusnier würde nicht ohne Quetzalli gehen, und zu dritt würden sie es niemals schaffen, die Wächter in den Schatten zu täuschen. Er hatte keine andere Wahl, als die Gärten jetzt zu verlassen und Hilfe zu holen.
Auf den beiden Monden am Himmel lag ein breiter Schatten. Sie spendeten nur wenig Licht in dieser Nacht. Eleborn glitt ins Dunkel. Er hatte die Jaguarmänner beobachtet. Sie waren gut. Sie folgten keinen festgelegten Wegen. Sie folgten keinem Rhythmus bei ihren Wachgängen. Sie konnten jederzeit an jedem Ort sein. Und sie verstanden es zu kämpfen. Eleborn dachte an das Schlachtfeld auf der Hochebene Kush zurück. Daran, wie die Jaguarmänner mit geradezu lächerlich wenigen Kriegern die Streitwagengeschwader Muwattas aufgehalten hatten. Sie zu unterschätzen wäre töricht. Sie waren mit Abstand die gefährlichsten Krieger unter den Menschenkindern, die er bislang gesehen hatte. Aber gefährlich war er auch.
Lautlos glitt Eleborn durch ein Rosendickicht. Die Blumen des Gartens waren nicht allein nach ästhetischen Gesichtspunkten ausgewählt worden. Es gab ungewöhnlich viele Pflanzen mit Dornen. Wer die Wege verließ, der hatte es schwer voranzukommen. Wie die Jaguarmänner lautlos durch dieses Dickicht streiften, war ihm unbegreiflich.
Der Elf dachte an Volodis Warnungen. Wen die Jaguarmänner bei einem Fluchtversuch erwischten, dem zerschmetterten sie beide Füße, so hieß es. Heute Morgen hatte er sich deshalb alle Auserwählten genau angesehen. Keiner von ihnen hatte getragen werden müssen oder auch nur gehinkt. Entweder war der letzte Fluchtversuch lange her, oder es handelte sich nur um eine erfundene Geschichte, um die Auserwählten einzuschüchtern.
Eleborn hatte nach dem Mittagsmahl noch lange mit Volodi gesprochen. Der Drusnier hatte sich verändert. Obwohl der Schatten des Todes jede Stunde auf ihm lastete, wirkte er in sich ruhend. Er haderte nicht mit seinem Schicksal. Hätte er die Gelegenheit, mit Quetzalli zu fliehen, dann würde er sie nutzen. Gelang dies nicht, würde er jeden Tag genießen, der ihm noch blieb.
Eleborn verharrte. Vor ihm bewegte sich etwas. Ein Jaguarmann trat aus dem Schatten eines Kirschbaums. Er kam genau auf ihn zu. Plötzlich verharrte der Zapotekrieger. Dann bewegte er den Kopf auf seltsame Art, wie ein Tier, das Witterung aufnahm! Eleborn stürmte vor. Er durfte nicht riskieren, dass der Zapote Alarm schlug.
Der Jaguarmann reagierte beängstigend schnell. Er wich dem Hieb, der auf seine Kehle gezielt hatte, aus, sodass Eleborn ihn nur seitlich am Hals traf. Dann schlug er mit seiner Krallenhand zu. Der Elf duckte sich, landete einen Tritt, der seinen Gegner seitlich am Knie traf. Deutlich war das Knacken des Gelenks zu hören, doch der Zapote gab keinen Schmerzenslaut von sich. Stattdessen warf er sich nach vorne, um ihn mit vorgestreckten Armen zu umfangen.
Eleborn entkam mit einem Salto rückwärts. Dornenranken zerrten an ihm, als er ein wenig unsicher auf dem unebenen Boden landete. Er musste es schnell zu Ende bringen. Jeden Augenblick mochte der Zapote um Hilfe rufen. Noch hielt ihn vielleicht sein Stolz als Krieger davon ab. Aber bald würde die Vernunft siegen.
Der Stolz! Das war es. Das war der verwundbarste Punkt des Jaguarmanns. Er würde diesen Sieg für sich allein haben wollen. Eleborn schenkte dem Zapote ein abfälliges Siegerlächeln und ganz, wie er gehofft hatte, stemmte sich der Jaguarmann hoch, um weiterzukämpfen. Es war deutlich, dass er das verletzte Knie nicht mehr belasten konnte. Dennoch wirkte der Zapote zuversichtlich. Seine Zähne blitzten unter dem seltsamen Helm, der sein Gesicht hinter einem aufgerissenen Raubtierkiefer verbarg. In beiden Händen hielt er Krallenstöcke, kurze Rundhölzer, die mit dolchlangen Obsidiankrallen besetzt waren und zwischen den Fingern seiner geballten Fäuste hervorlugten. Mit einem einzigen Hieb könnte er ihm damit die Kehle zerfetzen.
Eleborn hob seine Fäuste. Er besaß keine Waffe. Nur seine Ausbildung. Aber er war ein Drachenelf!
Mit tödlicher Geschwindigkeit täuschte er einen Schlag auf den Hals seines Gegners an, zuckte zurück, blockierte einen Krallenhieb mit dem Unterarm und ließ sich nach hinten fallen, als sei er aus der Balance geraten. Er fing seinen Sturz mit nach hinten gerissenen Händen ab, federte in den Armen und versetzte seinem Angreifer einen Fußtritt, der ihn direkt unter dem rechten Rippenbogen auf die Leber traf.
Der Zapote keuchte. Er hob die Rechte zum Schlag. Dann sackte er plötzlich in sich zusammen. Augenblicklich war Eleborn über ihm und zerquetschte ihm mit einem weiteren Schlag die Luftröhre.
Hastig zog er den Sterbenden unter einen Busch und nahm ihm die Krallenstöcke ab. Es waren viele Jaguarmänner im Park, und es würde nicht lange dauern, bis sie ihren toten Kameraden fanden.
Der Kampf war härter gewesen, als er erwartet hatte. Eleborn zwang sich zur Ruhe. Jetzt würde er all seine Sinne brauchen, um zu entkommen. Er hatte die Gärten in den letzten beiden Nächten aufmerksam beobachtet. Es gab Pflanzen, die im Dunkeln ein mattes Licht verstrahlten, wenn man sie berührte. Auch waren im Geäst der Büsche dünne Drähte mit Glöckchen gespannt. Manchmal lösten kleine Vögel oder andere Tiere einen Fehlalarm aus.