Die Stimme im Schatten
Bidayn kauerte auf dem Flachdach einer Backstube und ließ die gelbe Laterne, die am Eingang zum Haus der Seidenen hing, nicht aus den Augen. Den Kopf gegen die Ziegelmauer in ihrem Rücken gepresst, hatte sie die Knie angezogen und eine Decke um sich gewickelt. Von Ferne musste es so aussehen, als schliefe sie.
Die Ziegelsteine waren noch warm von der Hitze des Tages. Es war ein guter Platz, um Wache zu halten. Wenigstens diesen Dienst konnte sie Lyvianne noch leisten. Bidayn fühlte sich elend. Sie hätte härter um ihre Meisterin kämpfen müssen, sich nicht einfach den Befehlen Nandalees fügen dürfen. Lyvianne wäre zurückgegangen, um nach ihr zu suchen, da war sie sich ganz sicher.
Auf dem Nachbardach heulte ein einsamer Hund die beiden Monde an. Kurz darauf gab es Bewegung vor dem Tor der Seidenen. Ein Bote klopfte drängend. Bidayn war mehr als zweihundert Schritt entfernt, aber die Körpersprache des großen Mannes war überdeutlich. Er wirkte gehetzt. Was blitzte an seinem Gürtel? Dort steckte etwas Silbernes. Ein Messer?
Was da wohl vor sich ging? Bidayn konnte sich nicht erinnern, den Mann im Haus der Seidenen schon einmal gesehen zu haben. Dennoch kam er ihr irgendwie bekannt vor.
»Eine gute Späherin lässt auch ihre unmittelbare Umgebung nie aus den Augen«, erklang eine vertraute Stimme. Vor dem Treppenschacht, der aufs Dach führte, stand eine schattenhafte Gestalt.
»Und wer schläft, dem sinkt der Kopf auf die Brust oder auf die Schulter. So aufrecht, wie du dort gesessen hast, war unübersehbar, dass du ein Spitzel bist.«
»Herrin?« Bidayn schlug die Decke zurück und erhob sich.
Lyvianne trat ins Mondlicht. Sie trug noch immer die Gewänder des Bewahrers der Tiefen Gewölbe, aber sie hatte wieder ihre eigene Gestalt angenommen.
»Verzeih mir, dass ich mich auf dem Markt davongestohlen habe, Bidayn. Aber ich musste zurück zu dem Mann im Stein.«
Einen Moment fragte sich Bidayn, ob Lyvianne nur von ihrem Ehrgeiz oder vielleicht von einem bösen Geist besessen war. Sie hatte nicht vergessen, wie die Äste aus blauem Licht nach ihr gegriffen hatten.
»Geht es dir gut?«
»Ich bin sehr erschöpft.« Ihre Meisterin schenkte ihr ein müdes Lächeln. »Und sehr zufrieden.« Bei diesen Worten trat sie zur Seite, sodass Bidayn den Schatten auf der Treppe hinter ihr sehen konnte.
»Du musst uns nun zum Versteck deiner Freunde führen«, sagte eine warme, sympathische Männerstimme. Doch so freundlich der Schattenmann auch klang, von seinen Worten ging ein Zwang aus, dem Bidayn nichts entgegenzusetzen hatte. Sie begriff, dass sie mit einem Zauber belegt worden war.
»Ich bringe euch zu ihnen«, sagte sie ergeben.
Die Welt verteidigen
Nandalee konnte immer noch nicht glauben, Eleborn vor sich zu haben, so sehr hatte sich ihr einstiger Mitschüler verändert. Es war nicht diese lächerliche Bemalung, die vermutlich selbst die Mehrheit der Menschenkinder barbarisch fand. Er hatte einen Bart! Er bewegte sich anders. Seine Stimme hatte einen anderen Klang!
»Ich fasse noch einmal kurz zusammen. Der Himmlische hat dich nach Aram geschickt, damit du dort einen Spitzel der Blauen Halle ersetzt? Du, ein Elf der Weißen Halle?«
»Nicht irgendeinen Spitzel. Talawain ist der Vertraute des Unsterblichen. Er hat Einfluss auf die Politik eines riesigen Königreiches. Das ist keine Kleinigkeit.«
»Aber dieser Talawain musste verschwinden«, fuhr Nandalee fort, ohne auf die Einwände einzugehen. »Weil er ein Mörder war.« Sie lächelte schief. »Ungewöhnlich für einen Elf der Blauen Halle. Das ist doch eigentlich unser Part.«
»Man hat ihm den Mord untergeschoben.«
Nandalee machte eine wegwerfende Bewegung. »Wie dem auch sei. Dann hat dich der Unsterbliche damit beauftragt, nach einem verschollenen Hauptmann seiner Leibwache zu suchen. Und die Spur führte dich bis in die Tempelgärten der Zapote in der Goldenen Stadt.«
Eleborn nickte. »Ich bin froh, dass ihr gekommen seid. Alleine hätte ich es wohl nicht dort hinausgeschafft.«
»Das war unübersehbar«, meinte Nodon, fragte dann aber nach einem eisigen Blick von Nadalee: »Was weißt du über den Schlangenschlund?«
»Wenig. Die Auserwählten reden nicht viel darüber. Es kommt keiner zurück, der die Treppe in den Berg hinabsteigt. Dort unten gibt es einen Tempel. Sehr weit unten … Das ist alles, was ich gehört habe.«
»Was wirst du nun tun?«, wollte Nandalee wissen. Sie konnte nicht nachvollziehen, dass Eleborn sich ohne direkten Befehl nach Nangog gewagt hatte. Und hätten sie ihn nicht gefunden, hätte der Kampf mit den Zapote ein übles Ende für ihn genommen.
Ohne es zu wissen, hatte er ihre Pläne zerstört. Nodon war es, der entdeckt hatte, dass die Katzenmänner ganz darauf fixiert waren, die Auserwählten an Fluchtversuchen zu hindern. Damit, dass jemand versuchen könnte, in den Garten einzudringen, hatten sie bislang nicht gerechnet. Nach dieser Nacht wäre das anders. Sie hatten die eine Gelegenheit, den Garten auszuspähen, verpasst.
»Ehrlich gesagt, bin ich unschlüssig, was ich tun soll«, gestand Eleborn. »Melde ich dem Unsterblichen Aaron, was geschehen ist, dann wird er nichts unversucht lassen, um Volodi zu retten. Er wird einen Streit mit dem Reich der Zapote beginnen und ihren Devanthar erzürnen. Unternehme ich aber nichts, dann wird der Hauptmann seiner Leibwache sterben.«
»Was ist daran schlecht, wenn zwei große Menschenreiche einen Krieg beginnen?«, fragte Nodon.
»Talawain hatte Einfluss auf den Unsterblichen Aaron. Vielleicht werde auch ich in seiner Gunst aufsteigen. Es wäre unklug, ausgerechnet diesen Mann zu schwächen«, entgegnete Eleborn ernst.
Nandalee sah zu Nodon. »Er weiß es noch nicht?«
Der Schwertmeister des Dunklen nickte.
»Was weiß ich nicht?« Eleborn sah die drei Elfen der Reihe nach an. »Was ist geschehen?«
»Wir wurden angegriffen«, sagte Nandalee mit tonloser Stimme. Sie hasste es, diejenige zu sein, die es ihm erklären musste. Sie hatte gehofft, Nodon hätte schon mit ihm gesprochen. Aber sie war die Anführerin, es lag bei ihr, solche Dinge zu tun. »Die Blaue Halle wurde angegriffen.«
»Die Zwerge«, stieß Eleborn hervor. »Aber die Blaue Halle hatte doch nichts mit der Tiefen Stadt zu tun!«
»Es waren nicht die Zwerge. Es waren die Devanthar. Die Blaue Halle ist zerstört. Es gab keine Überlebenden. Wie es scheint, haben sie auch eure Späher auf Daia getötet. Und …« Nandalee erhob sich, ging ein paar Schritte, rang um Worte. Wie erklärte man den Tod einer Himmelsschlange? »Der Himmlische …« Sie blieb vor Eleborn stehen.
Der Elf schüttelte den Kopf. »Nein. Das kann nicht sein! Das … die Devanthar sind nach Albenmark gekommen? Wie …« Er sah sie bittend an, als hoffe er, das alles sei nur ein makabrer Scherz.
»Die Devanthar haben Albenmark angegriffen, Eleborn, deshalb sind wir hier.« Nandalee sah, dass ihn ihre Worte kaum erreichten. Er stand unter Schock. Seine Himmelsschlange war tot. Ein Drache, alt wie die Welt. Ein Zeichen von Allmacht und Unvergänglichkeit – ausgelöscht.
»Wir müssen hinab zum Grund des Weltenmundes. Und du wirst uns dabei helfen.«
»Ich soll helfen, einen Krieg zwischen zwei Großreichen anzuzetteln? Die Menschen, die dann sterben werden, haben nichts mit dem zu tun, was in Albenmark geschehen ist«, sagte er schließlich.
Nandalee war überrascht. Er begriff anscheinend immer noch nicht. »Wir sind nicht hier, um Gerechtigkeit zu üben, Eleborn. Wir sind hier, um unsere Welt zu verteidigen, deren Unberührbarkeit die Devanthar nicht mehr akzeptieren. Wir werden die Devanthar davon überzeugen, dass sie einen Fehler gemacht haben, den sie auf keinen Fall wiederholen dürfen.«
Plötzlich flackerten die Flammen auf den Öllampen auf. Schlagartig wurde es kälter in ihrem Versteck. Nandalee griff nach ihrem Schwert. Die Tür schwang auf, und auf der Schwelle stand Dunkelheit.