Mein Name ist Manawyn
Eine Gestalt ganz in Schwarz gewandet trat in das verborgene Gewölbe. »Eine eindrucksvolle Rede, Nandalee«, sagte sie mit warmer, charismatischer Stimme. »Ich bin völlig deiner Meinung. Wir sind wieder sieben. Der Kreis schließt sich. Ich bin froh, dass ihr mich geholt habt.« Mit diesen Worten schlug der Fremde seine Kapuze zurück. Sein Gesicht war ausgezehrt, die Wangen eingefallen, die blauen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Ein silberner Stirnreif hielt sein rabenschwarzes Haar zurück. »Mein Name ist Manawyn.«
Nandalee traute ihren Ohren nicht. Jeder Drachenelf kannte Manawyn. Er hatte auf Befehl der Himmelsschlangen die Weiße Halle gegründet. Er war eine Legende. Wie die anderen der Sieben hatte er sich in die Einsamkeit zurückgezogen.
Jetzt traten auch Lyvianne und Bidayn durch die Tür. Die Meisterin war erschöpft und wirkte fast so ausgezehrt wie Manawyn, doch in ihren Augen strahlte Triumph.
»Wo warst du all die Jahrhunderte?«, fragte Gonvalon respektvoll. Als er dabei schützend an Nandalees Seite trat, warf sie ihm einen ärgerlichen Blick zu. Sie konnte allein auf sich aufpassen!
»Ich bin der Mann im Stein, von dem du gelesen hast«, antwortete Manawyn und lächelte Nandalee gewinnend an. »Und wahrscheinlich bin ich nach dieser endlosen Gefangenschaft ein wenig verrückt. Wäre ich es nicht, würde ich auf dem schnellsten Wege in die relative Sicherheit Albenmarks zurückkehren, statt noch hier zu sein.«
»Was ist passiert, als ihr in den Krater gestiegen seid?«, fragte Nandalee.
Sie wusste, sie klang schroff, aber das war die einzige Frage, die wirklich von Bedeutung war. Manawyn konnte von unschätzbarem Wert sein. Er war an dem Ort gewesen, über den sie einfach keine verwertbaren Informationen fanden.
Der alte Elf trat in ihre Mitte. »Wir waren überheblich«, sagte der alte Elf. »Nach allem, was ich über dich gehört habe, bist du die bessere Anführerin, Nandalee. Wir haben den Krater nicht erkundet, sondern sind einfach in dem Glauben hinabgestiegen, dass sieben Drachenelfen unbesiegbar seien.« Er machte eine Geste, als wolle er mit seinen Armen die ganze Welt umfassen. »Zu meiner Zeit sah hier alles ganz anders aus. Die Menschenkinder sind wie Ameisen. Der ganze Kraterrand ist verändert. Als ich hierherkam, gab es nur eine Handvoll Häuser am Hang und eine kleine Festung, dort wo jetzt die Tempelgärten der Zapote liegen. Allerdings hatten die sieben großen Kulte der Großreiche Tempel im Inneren des Weltenmundes errichtet. Wir haben darin keine Gefahr gesehen.« Sein Blick wurde hart. »Ich war der Anführer. Ich wollte schnell hinein und wieder hinaus. Laut des alten Vertrages hätten wir Nangog nicht betreten dürfen. Ich wollte so wenige Stunden wie möglich hier verweilen. Wir sollten zur Gefesselten Göttin durchbrechen und erkunden, ob sie noch lebt. Wir sind nie bei ihr angekommen.« Er seufzte und ließ sich auf einer Decke nieder. Er bewegte sich langsam, als sei er noch immer geschwächt.
»Was ist geschehen?« Nandalee vermochte sich kaum der Faszination zu entziehen, die von Manawyn ausging. Sie betrachtete ihn durch ihr Verborgenes Auge. Seine Aura war nur ein schwaches Flackern, und das Gewebe aus Kraftlinien, das ihn umgab, wirkte unvollständig. Es gab nichts, was darauf hinwies, dass er versuchte, sie durch einen Zauber zu manipulieren. Bislang waren es nur seine Worte und seine Persönlichkeit, die sie gefangennahmen. Manawyn, der Gründer der Weißen Halle, war zu ihnen gekommen! Sie konnte es immer noch nicht fassen.
»Wir wollten schnell in den Weltenmund hinab, möglichst ohne Menschenkindern zu begegnen«, setzte er seine Erzählung fort. »Und wir waren uns sicher, würde es doch zu einem Kampf kommen, wäre er kurz und blutig für die Menschenkinder. Wir haben uns geirrt.« Er lächelte traurig. »Wir stiegen bei Nacht in den Krater hinab. In der Tiefe stießen wir dann auf ganze Wälder aus Eisenstangen. Sie alle waren durch Zauber miteinander vernetzt. Ich glaube, sie wurden errichtet, um die Grünen Geister fernzuhalten. Im Nachhinein habe ich mich oft gefragt, ob auch wir einen Alarm auslösten, als wir die Stangen passierten. Hinter dem Wald aus Eisenstangen fanden wir den Eingang zu einer großen Grotte, so gewaltig, dass der größte Wolkensammler ohne Mühe hätte hindurchfliegen können. Wir wussten, dass dies der Durchgang zum Gefängnis von Nangog war und wir nicht am Grund des Kraters suchen mussten.
Auch hier waren überall Spuren der Menschenkinder zu sehen. Sie hatten Häuser errichtet, die wie Schwalbennester an der hohen Decke hingen. Das hätte uns eine Warnung sein sollen, war es doch ein Zeichen, dass es etwas auf dem Boden gab, vor dem sie sich fürchteten. Wir aber hielten es in unserer Arroganz nur für eine der vielen versponnenen Eigenarten der Menschenkinder, für die ein kühler Verstand keine rationale Erklärung finden konnte. Wir scheiterten, weil wir so selbstsicher waren.« Er seufzte. »Wir gingen ins Innere der Grotte und kamen an ein ummauertes Becken, groß wie ein kleiner See. Das Wasser darin war von dunkelroter Farbe. Dort stießen wir auf den ersten Widerstand. Seltsame Krieger, verkleidet wie Raubkatzen, griffen uns an. Sie schlugen sich tapfer, dennoch hätten wir sie wohl alle getötet, wäre nicht dieses Ding im See gewesen! Es erhob sich plötzlich aus dem roten Wasser: eine Kreatur mit einem Kopf aus Metall, der halb offen lag, sodass man darin allerlei seltsames Räderwerk sehen konnte, das sich bewegte. Es war groß wie eine Himmelsschlange, sein schlangenhafter Leib ganz mit Federn bedeckt. Auch einige der Federn waren aus Metall. Und im selben Augenblick, als sich die Schlange erhob, sahen wir die Devanthar. Eine geflügelte Frau und eine Gestalt wie aus fließendem Licht versperrten uns den Weg in die Tiefe. Hinter uns aber war ein hässlicher, langarmiger Kerl erschienen und ein großer Mann, den Flammen umspielten. Mit ihrer Zaubermacht unterstützten sie die Schlange. Wir konnten weder hinab zu Nangog noch zurück in den Krater.
Habt ihr jemals gesehen, wie eine alte Katze ihren Jungen beibringt, Mäuse zu töten? Sie fängt eine Maus lebend und bringt sie zu ihren Kindern. Dann sieht sie zu, wie die Kleinen mit der Maus spielen, bis sie tot ist. So war dieser Kampf. Wir konnten nicht entkommen. Wir waren in ihre Falle gelaufen.
Zuletzt versuchten wir in unserer Verzweiflung, die Devanthar anzugreifen. Ich glaube, dass zwei oder drei Drachenelfen einen einzelnen Devanthar besiegen können – doch wenn die Devanthar gemeinsam agieren, vervielfacht sich ihre Macht. Zwei verfügen gemeinsam über die Zauberkraft von vier einzelnen Devanthar. Vier schon über die Macht von sechzehn. Es war hoffnungslos. Zuletzt war nur noch ich übrig. Ich wurde von der Gestalt aus fließendem Licht besiegt. Sie ließ mich am Leben, um mich zu studieren, und als sie meiner überdrüssig wurde, schenkte sie mich ihrer geflügelten Schwester Išta. Meine Gefährtinnen und Gefährten haben sie enthauptet und ihre Köpfe in Nischen in einem großen Torbogen ausgestellt. Für mich aber ersann Išta das Gefängnis im Stein.« Manawyn hatte den Kopf gesenkt. Seine Stimme hatte an Kraft verloren.
»Waren deine Gefährten allesamt blond?«, fragte Eleborn.
Der erste Meister sah den jungen Elfen verwundert an. »Ja, wie kommst du darauf?«
»Ich glaube, mit eurem Kampf habt ihr ein Ritual begründet, das bis heute fortdauert. Die Zapote opfern an ihren Festtagen blonde Krieger einer Gottheit, die sie die Gefiederte Schlange nennen.«
»Wie konntest du in dem Stein überleben?«, fragte Nandalee. Sie wollte nichts über die Opferrituale der Zapote hören. Sie musste an den Auftrag der Himmelsschlangen denken, an ihre Gefährten. »Und was hast du mit Lyvianne und Bidayn getan?« Sie konnte zwar sehen, dass die beiden im Augenblick nicht unter seinem Zauberbann standen, aber das unerwartete Erscheinen eines der Sieben machte sie stutzig. Warum hatten die Devanthar ausgerechnet ihn nicht getötet?
Manawyn hob langsam sein Haupt und sah sie an. In seinen blauen Augen erstrahlte eine unheimliche Kraft. Es lag ein Fanatismus in ihnen, wie er Nandalee fremd war. »Ich bin ein Drachenelf«, sagte er mit fester Stimme. »Ich habe mich geweigert zu sterben, bevor ich meine Mission erfüllt habe.«