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Zarah atmete durch ein Kissen mit getrockneten Veilchenblüten. Doch selbst sie vermochten den Gestank nicht zu besiegen. Nur Barnabas Worte spendeten ein wenig Trost. Er wusste, was kommen würde. Sie hörte es deutlich aus seiner Predigt heraus. Ihr Verrat war sein Wunsch gewesen. Es war die schwerste Last, die ihr je aufgebürdet worden war.

»Brüder und Schwestern, wen die Göttin erheben will, den wird sie prüfen. Ich weiß um euer aller Mühsal. Ich weiß, wie es ist, ins Licht gesehen zu haben und nicht zu jenen reden zu können, die im Dunkel verharren, weil in diesem Dunkel Schlangen hausen, die sich am Busen der Unsterblichen nähren. Ihr musstet so oft schweigen. Jedes Wort hundertmal auf eurer Zunge wägen. Ihr lebt in Angst, weil uns jene im Dunkel ewige Feindschaft geschworen haben. Doch Nangog erhört jedes unserer Gebete und jede unserer Bitten. Nangog wird uns stark machen, alles zu ertragen. Ihr glaubt, ihr habt den Kelch der Bitternis schon bis zur Neige geleert? Ihr irrt! Unsere dunkelste Stunde steht uns noch bevor. Sie hat jetzt begonnen!«

Ein ängstliches Raunen ging durch die Menge der Gläubigen. Bisher hatte Barnaba stets von den Verheißungen Nangogs gesprochen. So wie jetzt hatte ihn noch niemand reden hören. Er hob beide Arme und winkte ihnen, näher zu kommen. Sie hatten sich, nah der unteren Kanäle, durch die sie Fünf Lotusblüten betreten hatten, im Schlamm des Ufers der Kloake versammelt, und Barnaba war mitten unter ihnen. Er stand auf einem großen Stein, der aus der Decke gestürzt war. Auch er trug ein einfaches Gewand. Einen Wickelrock, der mit Schlamm und Unrat besudelt war. Deutlich konnten alle die Narben auf seinem Körper sehen. Er war schon durch viel Mühsal gewandert.

»Kommt, Brüder und Schwestern! Kommt zu mir, und so, wie ein guter Hirte seine Herde in der Finsternis vor den Wölfen behütet, so will auch ich euch beschützen. Will mit euch aus dem Kelch der Bitternis trinken und werde mit euch jede der dunklen Stunden teilen, die uns erwarten. Kommt näher, meine Brüder und Schwestern! Kommt näher!«

Zarah fand sich in der Menge eingekeilt. Niemand erkannte in ihr die schöne Priesterin, die Barnaba bei den früheren Predigten so oft begleitet hatte. Nun wurde sie wie alle anderen geschoben und gestoßen. Leiber rieben sich an ihr. Lastenträger aus den Frachthöfen und Karawansereien, Fischer und Handwerker. Es gab nicht viele Alte auf Nangog. Nur die Jungen und Starken konnten auf dieser Welt überleben.

Jene, die Barnaba am nächsten standen, streckten die Arme aus, um den Prediger zu berühren und seinen Segen zu erhalten.

»Seid stark in eurem Glauben, und alle Fährnisse des Schicksals werden an euch brechen wie Wellen an einer Felsküste.«

Plötzlich wurden Rufe laut. Krieger mit hohen Schilden und Helmen, auf denen sich stolze Bronzekämme erhoben, stürmten die Eingänge der Fünf Lotusblüten. »Ergreift den Ketzer«, befahl die Stimme, die Zarah schon so oft Komplimente ins Ohr geflüstert hatte. »Schlagt jeden nieder, der Widerstand leistet.«

Zarah sah, dass die Krieger nur mit schweren Knüppeln bewaffnet waren, keiner hatte sein Schwert gezogen.

»Ruhig, meine Brüder und Schwestern! Kämpft nicht. Streitet nicht. Fügt euch, und ihr werdet sehen, Nangog ist mit euch. Es ist nicht euer Leben, das in Gefahr ist.« Barnaba stieg von seinem Stein herab, und eine Gasse bildete sich in der Menge der Gläubigen. »Habt keine Angst!«, rief er immer wieder, während Arcumennas Krieger sie einkreisten.

Er ging so nah an Zarah vorbei, dass sie ihn hätte berühren können. In diesem Augenblick empfand sie zum ersten Mal so etwas wie Liebe. Es war ein Gefühl, als würde ihr die Brust zu eng. Dieser geschundene Mann mit den flammenden Augen würde sich für sie alle opfern. Einen Mann wie ihn hatte es unter all jenen, bei denen sie je gelegen hatte, nie gegeben. Er war stark und hatte doch ein gütiges Herz.

»Ruhig, meine Freunde!«, rief Barnaba erneut. »Euch wird nichts geschehen!«

Zarah wollte ihn zurückhalten, doch schon war er an ihr vorübergegangen, und ihre Kraft reichte nicht aus, sich durch die Menge zu drängen. Sie kannte den Laris von Truria, der an der Spitze seiner Krieger stand, gut. Und sie wusste, welchen verhängnisvollen Fehler Barnaba gerade beging.

»Schweig!«, rief sie aufgebracht und erntete dafür Ellenbogenstöße.

»Unterbrich den Heiligen nicht!«, zischte ein großer Mann neben ihr. »Jedes seiner Worte ist Gold!«

Nein, jedes seiner Worte bringt ihn dem Tod näher, dachte sie verzweifelt und versuchte, sich in die Gasse zu drängen, die sich hinter Barnaba bereits wieder schloss. Kräftige Hände legten sich auf ihre Schultern. »Störe den Heiligen nicht!« Der große Kerl war stark wie ein Steinmetz. Es war unmöglich, sich ihm zu entwinden.

Zarah drehte sich um und blickte zu ihm auf. »Bitte, ich muss den Priester warnen.«

»Er wird ein Wunder wirken«, sagte der Kerl mit verklärtem Blick, der ganz und gar nicht zu seinem harten, wettergegerbten Gesicht passte. »Du wirst es sehen.« Mit diesen Worten packte er sie bei den Hüften und hob sie hoch, als sei sie ein kleines Mädchen.

»Nicht!« Das Letzte, was sie brauchte, war, aus der Menge herauszuragen. Sie war zu oft bei Arcumenna gewesen. Er würde sie trotz der Verkleidung erkennen!

»Du glaubst, du kannst mir befehlen, Priester?«, rief Arcumenna mit einer Stimme, die es gewohnt war, den Lärm auf Schlachtfeldern zu übertönen. »Ihr glaubt, eure Göttin beschützt euch?« Der Feldherr zog sein Schwert. »Ich zeige euch jetzt, was der Schutz eurer Göttin und die Worte dieses Heuchlers wert sind!«

Entdeckt

Arcumenna war außer sich. Was bildete sich dieser falsche Heilige ein? Dass er dessen Befehlen folgen würde! Er hob sein Schwert hoch über den Kopf. »Vorrücken! Drängt sie mit euren Schilden zusammen, bis sie sich nicht mehr rühren können!«

Seine Männer gehorchten augenblicklich. Jahrelang hatten sie gemeinsam an der Grenze zu Drusna gekämpft und dem Unsterblichen Ansur Sieg auf Sieg geschenkt. Jeder seiner Männer war ein Veteran und ihm unbedingt ergeben.

»Frieden!«, rief ihm der Priester mit hoch erhobenen Armen entgegen.

Dieser Wicht hatte jetzt fast den Rand der Menge erreicht. Arcumenna stürmte vor, leicht hinter seinen Schild geduckt, den rechten Arm zurückgenommen, bereit, mit seinem Schwert einen geraden Stoß zu führen. »Für Valesia!«, rief er mit donnernder Stimme, und seine Männer nahmen den Schlachtruf auf.

»Für Valesia!«, hallte es hundertfach von den Wänden der riesigen Grotte, in der sich die Abwässer der halben Stadt zu einem stinkenden See versammelten. Der Laris hob seinen Schild und rammte ihn einem dickleibigen Krämer vor die Brust, sodass der Kerl schnaufend zurücktaumelte. Er stürzte gegen die Menge, die sich dicht zusammendrängte. Arcumennas Rechte schnellte vor, und er schlug den Schwertknauf gegen die Stirn des Krämers, der quiekte wie ein Schwein auf dem Schlachthof. Zur gleichen Zeit sausten die Knüppel seiner Männer nieder.

»Bitte!«, rief der Priester. »Gnade!«

»Haltet ein!« Arcumenna musste seinen Ruf dreimal wiederholen, bis all seine Männer ihn bei dem Lärm verstanden hatten. »Drei Schritte zurück!«

Als sie vor der Menschenmenge zurücktraten, brachen etliche in der vorderen Reihe in die Knie. Sie hielten ihre blutüberströmten Gesichter in den Händen verborgen. Soweit Arcumenna es sehen konnte, war keiner seiner Männer verletzt. Dieser Pöbel war unbewaffnet. Es lag kein Ruhm darin, ihn niederzumachen.

»Tritt vor, Priester!«

Einige seiner Jünger versuchten, den falschen Heiligen zurückzuhalten, doch er schob ihre Hände zur Seite. Ein Feigling war der Kerl nicht. Das gefiel Arcumenna. Er hatte etwas übrig für mutige Männer, auch wenn er ganz offensichtlich kein Krieger war, so hager wie er aussah.

»Würdest du für deine Leute sterben?«, fragte der Laris.

»Ohne zu zögern.« Der Priester stand nun wenige Schritt vor ihm. Sein Körper war mit Narben bedeckt. Ganz offensichtlich war er nicht der Erste, der diesen Aufwiegler gefangen nahm.