Von Westen blies ein böiger Wind, beugte die Bäume und riss die letzten weißen Kirschblüten von den Ästen. Eingehüllt in weißen Blütensturm, stand Volodi allein vor den Priestern. Jetzt konnte er sie hören, die Stimmen seiner Ahnen. Sie waren hier!
Der tiefe Krug wurde ihm hingehalten, und er fasste hinein. Auf seinem Grund lag nur ein einziger Stein. Volodi zog ihn heraus. Er war golden.
»Das ist gegen die Regeln«, sagte er leise.
»Ab heute gelten neue Regeln«, entgegnete der Priester im Federmantel. Es war das erste Mal, dass Volodi seine Stimme hörte. »Du hast alles verändert. Nun komm!«
Durch die Augen der Schlange
»Ihr habt nur ihn geholt?« Quetzalli konnte nicht fassen, was ihr Bruder ihr gerade erklärt hatte. »Das ist gegen die Tradition! Ihr werdet die Gefiederte Schlange erzürnen!«
»Wir müssen unumkehrbare Tatsachen schaffen. Wir befürchten, dass der Unsterbliche Aaron seinetwillen in die Goldene Stadt gekommen ist. Volodi ist einer seiner Feldherren, ein Held aus dem Krieg gegen Luwien und ein Freund des Unsterblichen.«
»Ihr habt all dies längst gewusst.« Quetzalli hatte das Gefühl, als wachse ein Stück Eis in ihrem Bauch. Immer weiter breitete sich die Kälte aus. »Und ich habe es begonnen.« Sie sah verzweifelt zu ihrem Bruder auf. »Ich wusste nicht, wen ich auserwählte. Er war einfach nur ein goldhaariger Krieger wie all die anderen. Ihr hättet ihn niemals hierherholen dürfen.«
»Er wurde auserwählt«, sagte Necahual mit tonloser Stimme. »Der Blick der Gefiederten Schlange fiel durch dich auf ihn. Und er hat uns durch seine Taten verhöhnt. Er muss geopfert werden! Du wirst es tun!«
Quetzalli sah ihn sprachlos an.
»Du wirst wieder eine Priesterin sein, wenn du es tust.« Ihr Bruder senkte den Blick. »Tust du es nicht, bist du wieder Fleisch. Ich habe dann den Befehl, dich sofort zurück in die Quartiere der Jaguare zu bringen.«
Quetzalli musste sich setzen. Sie wusste, die Gefiederte Schlange kannte keine Gnade und noch weniger ihre Priester. Ihr Leben gehörte seit ihrer Geburt der Priesterschaft. Von ihrem ersten Atemzug an war ihr der Weg vorherbestimmt gewesen, den sie gehen sollte. Es war ein Leben, das ihr kein Glück gebracht hatte. Mit ihrem vernarbten Leib würde sie nicht mehr für die Schlange jagen können. Izel und andere erfüllten nun diese Aufgabe. So führte ihr Weg sie also letztlich zum Blutstein oder zu den Jaguaren.
»Ich bin froh, dass ich Volodi die letzte Ehre erweisen kann«, sagte sie mit einer Stimme bar jeder Emotion. »Er ist ein tapferer Mann. Ich betrachte es als große Gnade der Schlange, dass ich bei seinem letzten Atemzug bei ihm sein darf. Ich werde es tun!«
Von der Freiheit
Artax nahm seinen Maskenhelm ab und musterte den Priester, der im Weißen Tor stand. Der Mann hatte sich Dornranken um die nackten, tätowierten Arme geschlungen. Die Dornen drückten in sein Fleisch, und Blut troff ihm von den Armen. Volodi hatte ihm einmal erzählt, dass die Zapote ihren Göttern Schmerz schenkten.
Er würde dieses Volk niemals begreifen, dachte Artax.
Und du solltest nicht hier sein. Du verspielst gerade alles, was du gewonnen hast. Ihr Devanthar wird dich hassen. Ja, vielleicht wird ein neuer großer Krieg wie der gegen die Luwier beginnen. Und all das nur wegen eines Barbaren? Wegen eines Söldners? Das ist weitaus verrückter, als sich Dornranken um die Arme zu wickeln!, mahnte ihn seine innere Stimme.
Artax ignorierte sie. »Verstehst du meine Sprache, Priester?«
Der Zapote nickte. Tiefe Falten umrahmten seine Augen. Seine Haut hing ihm in Lappen vom Hals herab. Er musste sehr alt sein. Hatten sie ihn geschickt, weil sein Verlust für den Tempel zu verschmerzen war?
»Ich weiß, dass der Hauptmann meiner Leibwache gegen seinen Willen hierhergebracht wurde.«
»Niemand betritt die Gärten des Tempels gegen seinen Willen«, entgegnete der Priester mit stoischer Ruhe. »Man muss Euch falsch unterrichtet haben, Herr.«
»Du weißt, wer ich bin?«
»Der Unsterbliche Aaron, Herrscher aller Schwarzköpfe.« Der Priester sagte das in einem Tonfall, als bedeuteten Titel und Würden gar nichts.
»Ich weiß, dass man meinen Hauptmann vor die Wahl stellte, die Frau, die er liebt, zu retten oder sie sterben zu lassen. Das nenne ich keine freie Entscheidung.«
»Er hatte die Freiheit, in sich zu gehen und zu erforschen, was ihm von Bedeutung ist. Wie ich hörte, habt Ihr diese Freiheit den Frauen und Kindern Eurer Feinde nicht gelassen. Ihr habt ganze Sippen ausgelöscht, Unsterblicher. Natürlich steht es mir nicht zu, darüber zu urteilen.« Er sprach ruhig, doch in seinen Augen meinte Artax ein höhnisches Funkeln zu sehen. Die Lügen über die Ereignisse im Steinhorst waren also schon bis in die Goldene Stadt gedrungen. Sie zu hören versetzte Artax einen Stich. Eleasar hatte in seinem Tod noch einen letzten Triumph errungen. Seine Bluttat bestimmte Aarons Ansehen inzwischen in größerem Maße als sein Sieg über Muwatta. Dabei wusste Artax nicht einmal zu sagen, was ihn mehr verletzte: wegen seiner grausamen Entschlossenheit bewundert oder aber verachtet zu werden.
»Du weißt also, wozu ich fähig bin, Priester«, entgegnete er beherrscht. »Ich verlange meinen Hauptmann zurück. Liefert ihr ihn nicht samt seiner Frau aus, dann werde ich ihn mir holen.«
»Was einmal den Göttern gehört, ist für uns Sterbliche auf immer verloren. Das wird auf immer …«
»Ich bin ein Unsterblicher, Priester!« Artax maß den Alten mit einem kalten Blick, trat einen Schritt zurück und setzte seinen Helm wieder auf. Seine Stimme hallte ihm dumpf in den Ohren, als er weitersprach. »Ich respektiere Eure Tempel, aber ich werde nicht dulden, dass meine Männer auf Eure Opfersteine gezerrt werden.« Artax trat noch einen Schritt zurück und legte die Hand auf den Griff seines Geisterschwertes. Er blickte in die Schatten, die das Tor warf. Er erinnerte sich, wie die Krieger der Zapote plötzlich aufgetaucht waren, als Volodi hier gestanden hatte. Wie aus den Schatten geboren, waren sie gewesen. Würden sie das noch einmal tun?
»Gib Befehl, meinen Hauptmann lebend vor mich zu führen! Sofort!« Mit diesen Worten zog er sein Schwert und hob es hoch über seinen Kopf.
Der Priester verschränkte seine Arme vor der Brust. »Ich nehme keine Befehle von einem Mann aus Aram entgegen. Ganz gleich, welcher Mann das ist.«
»Deine Freiheit, alter Mann.« Artax senkte das Schwert. Er hatte sich gewünscht, dass es nicht so kommen würde. Hattest du das? Oder bist du inzwischen versessen auf das Kämpfen?
Aus den Straßen, die vom Platz wegführten, erklang das dumpfe Geräusch von Katapultarmen, die auf die gepolsterten Rahmen des Stützgerüsts schlugen. Augenblicke später zersplitterten Amphoren, gefüllt mit Öl, rings um das Weiße Tor, während gleichzeitig Hunderte Krieger aus den großen Straßen hervorbrachen. Sie hatten Leitern geschultert, keiner von ihnen würde durch das Tor die Gärten betreten.
Artax wich noch weiter zurück. Gestalten manifestierten sich im Schatten, während goldenes Öl über die Bodenplatten floss. Schon sah der Unsterbliche ganz deutlich die ersten Jaguarmänner.
Brandpfeile zogen schwarze Streifen über den strahlend blauen Mittagshimmel. Er hatte sich von Volodis Plan inspirieren lassen, nur dass er diesmal zu Ende geführt wurde. Fauchend schossen Flammen im Tor auf. Eine brennende Gestalt kam Artax entgegengetaumelt. Mit einem wilden Schrei hob sie die Krallen. Der Unsterbliche tötete den Krieger mit einem glatten Stich in die Brust. Dann eilte er fort vom Tor, hin zu den Mauern des Tempelgartens, wo schon die ersten Sturmleitern angelegt wurden.
Sturmlandung
»Jetzt!«, ertönte eine dunkle Stimme irgendwo oberhalb des Frachtschachtes.
Nandalee hörte, wie Dutzende Halteseile gekappt wurden. Das riesige Himmelsschiff setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Der Korb, in dem sie standen, begann leicht zu pendeln.