»Der ist verrückt geworden«, stellte Nodon nüchtern fest und trat an dem ersten Meister vorbei durch das Tor.
Nandalee sah noch einen Augenblick zu, wie Manawyn zärtlich das goldene Haar der Toten kämmte. Vorsichtig löste er die Knoten. Sie hatten dafür wirklich keine Zeit, aber sie brachte es nicht übers Herz, den ersten Meister zu stören. Leise folgte sie Gonvalon und Eleborn.
Hinter dem Tor machte der weite Tunnel eine Kehre nach rechts. Es ging erneut steil in die Tiefe. Auch hier standen auf jeder der breiten Stufen Öllämpchen, die die Finsternis aus dem Berg bannten. Nandalee konnte etwa hundert Schritt weit sehen. Ein sanfter, kaum spürbarer, warmer Wind stieg aus der Tiefe auf. Der Atem Nangogs?
Sie hörte, wie hinter ihr Schwerter aus der Scheide gezogen wurden. Nun waren auch Lyvianne und Bidayn durch das Tor getreten. Beide hielten ihre Klingen in der Hand und schritten nun, ohne zu zögern, an Nandalee vorüber die weite Treppe hinab. Sie sah ihren Gefährtinnen nach. Sie ahnte, was sie alle dachten. Sie fragten sich, ob sie dasselbe Schicksal erwartete wie Manawyn und die anderen Meister der Weißen Halle.
Nandalee ging zurück zum Tor. Der erste Meister hielt immer noch den abgetrennten Kopf in Händen. Das lange Haar war nun sorgfältig gekämmt und glänzte wieder. Der alte Elf hob seinen Blick und nickte ihr zu. Dann setzte er den Kopf vorsichtig zurück in die Nische und ging ihr entgegen. Als er sie erreichte, legte er seine Rechte auf die Brust, dort, wo sein Herz war. »Ich war so lange in diesem Stein eingesperrt, dass ich dachte, auch mein Herz sei ein Stein geworden.« Seine Augen schimmerten feucht. »Ich habe mich geirrt.«
Nandalee hörte die Stimmen hinter ihnen nun ganz deutlich. Vielfach an den Tunnelwänden gebrochen, war schwer zu schätzen, wie weit sie entfernt sein mochten. Sie wurden vom rhythmischen Geräusch eiliger Schritte begleitet. Sie mussten sich beeilen!
Ohne ein weiteres Wort strebten sie gemeinsam immer zwei Stufen auf einmal nehmend in die Tiefe, bis sie die weite Kehre hinter sich ließen und sich ihnen ein atemberaubender Anblick bot. Die Höhlen der Zwerge in der Tiefen Stadt waren nichts im Vergleich zu dem, was nun vor Nandalee und Manawyn lag: Weit wie eine Landschaft breitete sich eine natürliche Grotte aus. Die Wände spielten in Farben von rostgeadertem Weiß über hellem Rosa bis hin zu einem dunklen Orangerot. Ein Zauber musste in die Höhlenwände gewoben sein, denn es herrschte ein zartes Licht wie zur ersten Stunde der Dämmerung. Geschwungene Pfeiler aus natürlichem Fels, ein jeder für sich groß wie ein Berg, trugen die Decke, unter der bleicher Dunst hing. An einige dieser Pfeiler klammerten sich schlichte Häuser mit Fenstern wie dunkle Augenhöhlen. Sie lagen weit über dem Boden und waren nur über schmale Pfade zu erreichen. Nandalee erinnerte sich, wie Manawyn davon gesprochen hatte, dass die Zapote Häuser errichtet hatten, die wie Schwalbennester an der Höhlendecke klebten. Und sie hatte seine Erklärung nicht vergessen, warum sie so gebaut waren!
Mit mulmigem Gefühl stieg sie die letzten Stufen hinab, wo die anderen sie erwarteten. Vergessen waren die Zwistigkeiten der letzten Tage, zum ersten Mal spürte sie, dass sie alle in ihr die Anführerin sahen. Sie erwarteten ihre Befehle.
Rechts von ihnen, etwa zweihundert Schritt entfernt, hatten sich Krieger auf einer flachen Erhebung versammelt. Auf ihren Köpfen wippten lange, rote Federn. Sie trugen gesteppte, bunte Gewänder und gehärtetes Leinen als Rüstungen. Auch ihre Schilde waren mit Federn geschmückt. Die Zapote beobachteten sie und schienen nicht angreifen zu wollen, obwohl sie fast hundert waren.
Weit hinter ihnen, in einer Felsnische, die so groß war, dass sie die halbe Goldene Stadt in sich hätte aufnehmen können, lag eine Stufenpyramide. Eine steile Treppe führte in deren Mitte zur obersten Terrasse. Etwas bewegte sich dort. Nandalee kniff die Augen zusammen: Priester in Federschmuck standen um einen Opferstein versammelt. Es schien, als läge dort ein Mann. Ganz sicher war sie sich nicht. Die Entfernung war zu groß.
Gut sichtbar war hingegen ein kleiner See, der vor der Pyramide lag. Sein Wasser schimmerte im Dämmerlicht blutig rot.
»Hier ist es«, sagte Manawyn, und in seiner Stimme lag ein Zittern. »Das ist der See, aus dem der Schlangendrache kam.«
Von der Stufenpyramide ertönte Hörnerklang. Es war ein dumpfer, aufwühlender Laut, der sich in Nandalees Knochen krallte.
»Wo geht es in die Tiefe?«
Manawyn deutete nach links, wo sich die weite, abfallende Grotte in der Ferne in silbernem Licht verlor. Es war wunderschön hier, und zugleich spürte Nandalee die Angst, die sich seit Jahrhunderten ins Gestein gefressen hatte.
»Warten wir nicht, ob etwas aus dem See steigt. Lauft!«
Alte Macht
Es war Quetzalli völlig fremd geworden, von Zapote-Priestern mit Respekt behandelt zu werden. Seit sie zu Fleisch erklärt worden war, hatten aus ihrem Volk nur ihr Bruder und der Diener Ichtaca freundliche Worte für sie gehabt. Jetzt erinnerte sie sich wieder daran, wie es war, Ansehen zu besitzen. Sie stammte aus einer der ältesten Familien des Reiches. Ihr Urahn hatte als einer der Ersten vom Purpurfleisch gekostet.
All dies war nun zurückgekehrt. Sklavinnen hatten sie gewaschen und ihren nackten Leib mit öliger, schwarzblauer Farbe bemalt, von der das Blut des Auserwählten abperlen würde.
Um ihre Hüften war ein blütenweißes Seidentuch geschlungen, das noch nie zuvor getragen worden war. Jetzt schoben ihr die Sklavinnen die schweren goldenen Armreife über die Hände. Der Prunkkragen aus Gold und dunkler, alter Jade legte sich schwer und kühl auf ihre Schultern. Gedankenverloren betrachtete sie die feinen, schwarzen Linien, die zwischen Jade und Goldfassung lagen – es war eingetrocknetes Blut. Manches davon so alt wie die Pyramide, die sich vor ihr erhob. Sie stand zusammen mit den übrigen Priestern unter einem Baldachin aus Tausenden Federn. Es war ein Ort der letzten Einkehr, wo die Sklaven ihnen ihre Prunkgewänder anlegten und sie sich gesenkten Hauptes darauf vorbereiteten, einem Gott gegenüberzutreten.
Sklavinnen legten ihr den Federmantel um, den sie so lange nicht getragen hatte, und befestigten ihn mit Seidenschnüren am Kragen. Zuletzt wurden ihre Haare mit goldenen Kämmen hochgesteckt, die mit sich windenden Schlangen geschmückt waren. Sie war bereit.
Alle Blicke ruhten auf ihr. Sie spürte den alten Respekt. Es war, als sei sie nie fort gewesen.
Der ganz schwarz geschminkte Klingenhüter, der die Auserwählten durch den Schlangenschlund führte, trat vor sie, verbeugte sich ehrerbietig und reichte ihr mit beiden Händen das alte Opfermesser.
»Tochter der Schlange, nimm ein Leben, um Leben zu schenken«, sagte er feierlich, wie der Ritus es vorschrieb.
»Meine Hand wird auf dem schlagenden Herzen eines Helden ruhen, wenn deine Klinge scharf genug ist«, antwortete Quezalli feierlich. Sie hatte keines der Worte vergessen. Sie war wieder in ihre alte Haut geschlüpft, als sei sie niemals zur Gespielin der Jaguarmänner gemacht worden. Seit Jahrhunderten waren die Frauen ihrer Familie Priesterinnen gewesen. Hier zu stehen war ihre Erfüllung. Hier war sie ganz sie selbst.
Quetzalli nahm das Opfermesser entgegen, dessen Obsidianklinge die Farbe eines dunklen Waldsees hatte. Es lag vertraut in ihrer Hand, obwohl ein ganzes Leben vergangen zu sein schien, seit sie zum letzten Mal dieses Messer entgegengenommen hatte. Es stand den Jägerinnen zu, jene zu opfern, die sie in die Tempelgärten gebracht hatten. Die meisten machten von diesem Vorrecht keinen Gebrauch, doch Quetzalli hatte es stets als Ehre empfunden, zu Ende zu bringen, was sie im Namen der Gefiederten Schlange begonnen hatte.