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Gemessenen Schrittes begann sie den steilen Aufstieg zum Opferstein hinauf. Sie ging allein, konzentrierte sich ganz auf ihre Aufgabe. Ihr durfte nur der Klingenhüter folgen, und auch er musste Abstand halten.

Erst als sie die Hälfte der Treppen erklommen hatte, fiel ihr auf, dass etwas anders als sonst war. Eine seltsame Unruhe herrschte in der weiten Höhle. Doch Quetzalli hielt den Blick fest auf das Ende der Treppe gerichtet. All ihr Streben und Denken sollte nun allein auf die Gefiederte Schlange gerichtet sein. Sie dachte an weiße Haut und daran, wie der Schnitt unter dem Rippenbogen, nahe beim Herzen zu setzen war. Daran, wie sie ihre schmale Hand unter den Rippen hindurch nach oben schieben musste, um nach dem schlagenden Herzen zu greifen. Dem Herzen Volodis, der sie in seine starken Arme geschlossen hatte, als sie für ihr eigenes Volk nur noch Fleisch gewesen war.

Doch nun konnte sie all das hinter sich lassen. Ein Schnitt … ein letztes Herz, und sie würde wieder zur Priesterkaste der Gefiederten Schlange gehören. Die Vergangenheit wäre vergessen. Wäre sie das? Sie hatte fast das Ende der Treppe erreicht. Sah den Opferstein, auf dem Volodi festgebunden lag. Sah die vier Wachen, die in den vier Winden standen. Einer an jeder Ecke der Plattform. Zwei Adlerkrieger und zwei Jaguarmänner. Quetzalli wusste, unter den Jaguaren würde man immer über sie reden. Über die Priesterin, die einmal ihr Fleisch gewesen war. Nichts wäre je wieder wie früher. Sich an diesen Irrglauben zu klammern war dumm.

Sie nahm die letzte Stufe. Volodi drehte seinen Kopf und sah sie an. Er sagte nichts. In seinen Augen lag, was Worte niemals hätten ausdrücken können. Er hatte sie erkannt und wandte nun den Kopf wieder ab.

Der Opferstein war eine hüfthohe Säule. Volodis Becken ruhte auf der Säule. Seine Arme und Beine waren zurückgebogen und mit Lederriemen an schwere, goldene Ringe am Boden gebunden worden. Quetzallis Blick wanderte über die Bauchmuskeln zum Rippenbogen. Die Art der Fesselung erleichterte es, den Schnitt zu setzen, der ihr erlaubte, sein Herz herauszureißen.

Wohl Odi, dachte sie. Er war um ihretwillen zurückgekehrt. Ihr Bruder, Necahual, hatte ihr erzählt, wie er es geschafft hatte, den Drusnier dazu zu bringen, freiwillig in die Tempelgärten zu treten. Der Krieger hatte sie gewählt, die Verräterin, die ihn zum Tode hatte verführen wollen und ihn dann doch nicht ausliefern konnte. Die gefallene Priesterin, deren Leib von Narben entstellt war, war seine Wahl gewesen, als er jedes Mädchen in der Tempelstadt hätte haben können. Er war zärtlich und einfühlsam zu ihr gewesen. Er hatte gewusst, sie zu retten, war sein Tod. Kein Zapote hatte je für sie sein Leben gewagt. Quezalli wusste nicht, was er in ihr sah. Warum er das tat. Sie wusste nur, sie würde es niemals herausfinden. Für sie beide gab es keine Zukunft.

Ungewohnter Lärm ließ Quetzalli aufblicken. In der Höhle war eine regelrechte Schlacht entbrannt. Was bedeutete das? Die ungewöhnliche Akustik dieses Ortes verzerrte die Geräusche und ließ sie fern erklingen, doch die fremden Krieger waren schon bis fast auf zweihundert Schritt an die Pyramide herangelangt. Sie bewegten sich entlang des Blutteiches, ohne zu ahnen, in welch tödlicher Gefahr sie schwebten.

Volodi hatte ihr erzählt, dass er ein Feldherr im Königreich Aram gewesen war. War sein König gekommen, ihn zu retten? Dann würde noch in dieser Stunde ein Unsterblicher sein Leben verlieren.

Quetzalli blickte auf den prächtigen Opferdolch. Ihre Entscheidung war gefallen. Sie würde Volodi befreien und dann wahrscheinlich mit ihm sterben! Der Drusnier spannte seine Bauchmuskeln, um den Kopf, der in den Nacken gebogen war, anzuheben und sie anzusehen. Er sah zu ihr auf. Ohne Angst! Selbst jetzt vertraute er ihr noch. Sie könnte ihn niemals verraten.

Quetzalli wünschte, sie würde seine Sprache beherrschen und ihn darauf vorbereiten können, was sie jetzt tun wollte. Es musste alles sehr schnell gehen! Sie würde seine Handfesseln durchtrennen und dann seine Füße befreien. Die vier Krieger blickten angespannt auf das Kampfgeschehen. Die Fremden hatten die Schlachtreihe der Tempelwachen durchbrochen. An ihrer Spitze kämpfte ein Mann, der einen prächtigen Maskenhelm trug. Er focht wie ein Berserker. Niemand vermochte sich ihm zu widersetzen. Nur eine Handvoll Jaguarmänner stand jetzt noch zwischen ihm und der Pyramide.

»Töte ihn, und rufe die Schlange«, befahl der Klingenhüter hinter ihr.

Quetzalli hob den Opferdolch.

Blutige Tränen

Artax sah die Priesterin mit dem Dolch auf der Spitze der Pyramide. Sie waren so weit gekommen, und nun war im letzten Augenblick alles verloren. »Ormu!«, rief er aus Leibeskräften nach dem Bogenschützen aus Garagum und wehrte den Hieb eines Jaguarmanns ab. »Ormu!«

Die letzten Zapote kämpften mit dem Mut der Verzweiflung. Artax konnte das nicht verstehen. Die Schlacht war für sie verloren, das war offensichtlich. Warum ergaben sie sich nicht? Der Unsterbliche streckte den Jaguarmann vor sich mit einem wuchtigen Hieb nieder. Sein verwunschenes Schwert trennte den Arm ab, den der Krieger zum Schutz erhoben hatte, und drang ihm noch tief in die Schulter. Der Zapote schrie nicht. Er sackte zusammen, und als Artax das Schwert aus der grässlichen Wunde zog, kroch er ein Stück weit zurück. Er rief den letzten drei überlebenden Jaguarmännern etwas zu, dabei deutete er auf Kolja, der mit seinen Zinnernen von den Gärten heruntergestiegen und zur Verstärkung gekommen war. Artax nutzte den kurzen Moment der Sicherheit und wandte sich zu Ormu um. Im selben Augenblick war Ashot an seiner Seite und schirmte ihn mit seinem Schild ab.

»Schieß auf die Priesterin, Ormu!«

Der Bogenschütze hob die Waffe und zögerte. »Das ist sehr weit.«

»Schieß!«, befahl Artax. Noch zwei oder drei Herzschläge und Volodi wäre tot. Es war die letzte Gelegenheit.

Ormu hob die Waffe und zog in fließender Bewegung die Sehne zurück. Er hörte den Jäger ausatmen. Dann schnellte der Pfeil von der Sehne.

Artax murmelte gepresst ein Stoßgebet.

Der Pfeil fand sein Ziel. Die Priesterin wurde von der Wucht des Treffers nach hinten gerissen. Das Messer fiel ihr aus der Hand. Die anderen Zapote auf der Tempelspitze schrien auf.

»Schieß auf jeden Zapote, der sich Volodi nähert!«, befahl er Ormu und hob sein von grünem Licht umspieltes Schwert hoch über den Kopf. »Vorwärts Männer, stürmt den Tempel!« Ohne sich noch einmal umzusehen, rannte Artax los. Sein Herz schlug so schwer wie eine Trommel. Sein Atem ging keuchend, als er die steilen Stufen erreichte, die zum Tempel hinaufführten.

Die letzten überlebenden Jaguarmänner hatten sich an das gemauerte Ufer des unheimlichen roten Sees zurückgezogen. Die Kämpfe waren zum Erliegen gekommen. Nur die Krieger auf der Tempelspitze schienen entschlossen, noch Widerstand zu leisten. Sie formierten sich dort, wo die Treppe auf die oberste Terrasse der Stufenpyramide mündete.

Pfeile zogen über Artax hinweg. Ein Krieger in einer Adlerrüstung wurde in die Brust getroffen und stürzte die Treppe hinab. Nun standen nur noch drei Zapote vor Volodi.

Artax blickte kurz über seine Schulter. Unmittelbar hinter ihm lief Ashot die Treppen hinauf, dicht gefolgt von etlichen Kushiten. Kolja war bei Ormu geblieben und hatte eine Gruppe Bogenschützen um sich geschart. Gerade deutete er mit grimmigem Gesicht auf die Spitze der Pyramide. Die Krieger hoben ihre Waffen.

»Nein!«, schrie Artax. Sie durften nicht wahllos schießen. Wenn sie den Opferplatz mit Pfeilen eindeckten, war die Gefahr viel zu groß, auch Volodi zu treffen. Er schrie, winkte mit den Armen, doch Kolja gab den Schützen ein Zeichen weiterzumachen. Er musste ihn missverstanden haben!

Artax rannte um Volodis Leben. Stufe um Stufe. Seine Waden brannten. Seine Lungen füllten sich mit Feuer. Der Maskenhelm drohte ihn zu ersticken. Schweiß rann ihm in die Augen. Er spürte, wie seine Gefährten zurückblieben, wandte sich aber nicht um und hielt den Blick fest auf das Ende der Treppe gerichtet.