Der Schlangendrache metzelte die Krieger nieder, wie man Fliegen an einem schwülen Sommertag erschlägt. Aber er setzte den Fliehenden nicht lange nach. Nach wenigen Schritten schon hob er den Kopf, als würde er Witterung aufnehmen. Dann wandte er sich ab, kroch tiefer in die riesige Grotte, die sich in blaugrauem Dämmerlicht verlor. Es schien, als wolle er zum Herzen der Erde kriechen.
Kristalle
Lyvianne sah zur Höhlendecke, die sich im blaugrauen Dämmerlicht verlor. Das Zwielicht machte es schwer, Entfernungen zu schätzen. Wie hoch war sie wohl? Dreihundert Schritt? Vierhundert? Mehr? Nie zuvor hatte sie sich so klein und unbedeutend gefühlt. Dieser Ort war nicht für Elfen geschaffen.
Die Sieben waren auf dem Weg zu etwas, das selbst Alben und Devanthar gefürchtet hatten. Etwas, das die verfeindeten Weltenschöpfer dazu gebracht hatte, ein einziges Mal gemeinsam zu kämpfen. Und sie sollten es nun entfesseln. Bislang hatte Lyvianne sich die Riesin nicht wirklich vorstellen können. Sie hatte an ein großes Geschöpf gedacht. Plump und ungeschlacht wie die Menschenkinder und groß wie ein Turm. Aber Nangog musste viel mehr sein. Sie hatte die Welten Daia und Albenmark erbaut. Wie groß war eine Kreatur, die Berge erschuf? War sie vielleicht nicht einmal aus Fleisch und Blut? Eine Naturgewalt, die eine Form angenommen hatte? Ihr ging auf, wie naiv sie gewesen war. Nangog war gewiss kein plumper, riesiger Mensch. Sie konnte jede Gestalt haben!
Die Drachenelfe blickte zu Manawyn zurück. Hier zu sein hatte ihn schrumpfen lassen. Zu sehen, wie er den Kopf der toten Elfe kämmte, hatte ihn entzaubert. Er war nicht der, für den sie ihn gehalten hatte, als sie ihn aus dem Stein befreite. Er hatte Schwächen. Sein Blick kehrte immer wieder in die Vergangenheit zurück. Sein Körper mochte die Jahrhunderte überstanden haben, aber sein Herz war gestorben, als seine Gefährten fielen. Immer wieder wandte sich der schwarzhaarige Elf um. Er dachte nicht an Nangog. Er fürchtete allein das Ungeheuer, das die Devanthar erschaffen hatten.
Schweigend stiegen sie immer weiter in die Tiefe. Der Boden der Höhle war sanft abfallend. Wie lang war der Weg, der vor ihnen lag? All ihre Gefährten wirkten bedrückt. Vor ihnen lag Nangog, hinter ihnen der Schlangendrache, der Manawyn besiegt hatte – sie waren dem Untergang geweiht. Die Himmelsschlangen hatten sie geopfert!
Lyvianne wurde sich bewusst, dass sie ihr eigenes Ziel niemals erreichen würde, vollkommene Kinder zu gebären. Sie sah zu Gonvalon, der sich nah bei Nandalee hielt. Er ahnte nicht, wer seine Mutter war, ahnte nicht, dass er in der Weißen Halle jahrelang an ihrer Seite gelebt hatte. Vielleicht hatte sie ihre Kinder an den falschen Maßstäben gemessen? Sie hatte ihn im Schnee zurückgelassen, damit er starb. Aber er war stärker gewesen, als sie erwartet hatte. Die Gabe des Zauberwebens war nicht mächtig in ihm gewesen. Er war keine jener Lichtgestalten, die in ihren Träumen eines Tages die Nachfolge der Alben antreten würden. Elfen, die eine Macht in sich versammelten, die sie über alle anderen Geschöpfe Albenmarks stellte. Sie würden gerechte Herrscher sein und eine Welt der Schönheit und Harmonie erschaffen.
Sie hätte gerne Nandalee als ihre Schülerin gehabt. Sie war von ihnen allen am nächsten an jenem Ideal, von dem Lyvianne träumte. Wenn sie nur nicht so eine unbeherrschte Barbarin wäre! Sie folgte viel zu sehr ihren Gefühlen. Daraus konnte nichts Gutes erwachsen. Weise Entscheidungen wurden mit Bedacht getroffen, nicht auf der Grundlage von Emotionen. Aber vielleicht würde sie das noch lernen … Lyvianne lächelte. Nein, eher nicht.
Auch Nodon war nahe an dem Ideal, dem sie so lange schon folgte. Vielleicht etwas zu beherrscht. Lyvianne erlaubte sich, durch ihr Verborgenes Auge seine Aura zu studieren. Er war vollkommen in Harmonie mit sich und dieser fremden Welt. Er haderte nicht mit seinem Schicksal, ging ohne Furcht dem entgegen, was sie hier erwartete. War das Mut oder einfach nur ein Mangel an Fantasie?
Bei allen anderen sah sie Spuren von Furcht in ihrer Aura. Vor allem bei Bidayn und Manawyn. Der erste Meister ging hinten. Er hatte seine alte Kraft nicht wiedererlangt. Seine Aura war unstet wie ein Kerzenlicht im Wind.
Am stärksten strahlten die Auren von Gonvalon und Nandalee. Sie waren miteinander verschmolzen. Nicht einfach überlagert, wie es geschah, wenn man dicht beieinanderging. Ihnen wohnte eine Harmonie inne, die sie gleich sein ließ. War das Liebe?
In Eleborn hingegen brannte eine kalte, beherrschte Wut. Er hatte den Tod des Himmlischen nicht verwunden. Es war gut, dass er hier unten war, als Teil dieser Mission, von der es keine Wiederkehr geben konnte. Wohin hätte er gehen sollen in Albenmark? Ein Drachenelf, der seine Himmelsschlange verloren hatte … Das hatte es noch nie gegeben. Daraus konnte nichts Gutes erwachsen.
Sie dachte an all ihre Kinder, deren Seelen sie hatte fliegen lassen, damit sie ein langes Leben in einer unvollkommenen, fleischlichen Hülle überspringen konnten und einen Schritt weiter im Zyklus aus Tod und Wiedergeburt gingen. Wie viele von ihnen waren bereits zurückgekehrt? Hätten sie das Opfer verstanden, das sie ihnen gebracht hatte?
Ein seltsames Funkeln riss sie aus ihren Gedanken. Aus der Decke hoch über ihnen ragte ein grüner Kristall. Er musste groß wie der Stamm einer hundertjährigen Eiche sein, wenn sie ihn von hier unten so deutlich sehen konnten. Auch an den Höhlenwänden befanden sich nun Einsprengsel aus grünem Kristall. Was hatte es damit auf sich?
Ihr Verborgenes Auge enthüllte Lyvianne eine Aura aus goldenem Licht, das den riesigen Kristall pulsierend umhüllte. Er war lebendig, dachte Lyvianne überrascht. Das war anders als in Albenmark. Auch dort war alles in das magische Netz eingebunden, doch Steine und Metalle waren tot.
Weit hinter ihnen war ein dumpfes Geräusch zu vernehmen, und der Boden unter ihren Füßen erzitterte.
»Er kommt!«, rief Manawyn. »Er weiß, dass wir hier sind.«
»Lauft!«, befahl Nandalee und verfiel in den ausdauernden Trab der Jäger.
Bidayn war sehr blass. Lyvianne konnte sich gut vorstellen, was in ihrer Schülerin vorging. Die junge Elfe wusste, dass sie die schlechteste Läuferin von ihnen allen war. Sie würde bald zurückfallen.
»Ich bin bei dir«, sagte Lyvianne. »Du wirst nicht allein sein, Bidayn. Und dies ist nicht das Ende. Ich habe dir eine neue Haut versprochen. Und ich stehe zu meinem Wort.«
Die Höhlenwände veränderten sich. Immer häufiger waren die Kristalle nun zu sehen. In allen Größen wucherten sie nicht mehr nur an der Decke und den Wänden, sondern auch auf dem Boden, sodass ihr Weg immer beschwerlicher wurde. Immer wieder mussten sie den Kristallen ausweichen. Manche waren fein wie Grashalme und splitterten unter ihrem Schritt. Andere so dick wie Finger. Sie wurden mächtiger, je weiter sie vordrangen.
Bald versperrten sie ihnen den Weg und ließen kaum noch ein Durchkommen zu. Längst war es nicht mehr möglich zu laufen. Sie stiegen über klare grüne Säulen hinweg, duckten sich unter kristallenen Blüten, mächtig wie Pferdeleiber.
»Ich halte ihn auf!«, sagte Manawyn plötzlich. »Es ist mein Schicksal, ihm gegenüberzutreten.«
Nandalee nickte zögernd. Auch sie wusste, dass es kein Zurück mehr gab.
»Ich bleibe bei dir«, erklärte Nodon. »Es wird mir eine Ehre sein, von dir zu lernen, Meister.«
Er ist auf der Suche nach einem guten Tod, dachte Lyvianne. Vielleicht sollte ich es auch so machen.
»Ihr anderen folgt mir!«, befahl Nandalee in einem Tonfall, als wüsste sie ganz genau, was vor ihnen lag.
Lyvianne entschied, dass sie die Göttin sehen wollte. Jene Kreatur, die Alben und Devanthar so sehr gefürchtet hatten, dass sie ein Bündnis schmiedeten.
Der Kristallwald wuchs nun ohne Ordnung. Und auch die Bezeichnung Wald vermochte nicht wirklich zu beschreiben, wodurch sie sich bewegten – wuchsen in einem Wald die Bäume doch von der Erde dem Himmel entgegen. Hier aber wucherten die Kristalle in allen Winkeln und Richtungen, dabei waren sie so groß, dass sie Lyvianne, wie auch schon die Höhle selbst, das Gefühl vermittelten, völlig unbedeutend zu sein.