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In einem der besonders großen Kristalle war ein Schatten eingeschlossen. Ein länglicher Leib, ihrem eigenen nicht unähnlich, nur größer, fast wie ein Troll, dabei aber feingliedriger. Was war das? Eine solche Kreatur hatte Lyvianne noch nie gesehen.

Bald sah sie weitere Schatten. Auch veränderte sich die Struktur des Chaos hin zur Ordnung. Es schien nun, als seien die Säulen ähnlich wie Bienenwaben angeordnet. Doch eine jede von ihnen war beschädigt, und Lyvianne spürte, dass das, was auch immer darin gewachsen war, seit Langem nicht mehr lebte.

Nandalee blieb unvermittelt stehen. Lyvianne sah an ihr vorbei. Sie hatten einen Ort erreicht, an dem es keinen festen Boden mehr gab …Vor ihnen erstreckte sich Zwielicht, weit wie ein Himmel. Einzelne der Kristallsäulen wuchsen in den freien Raum hinein. Sie hatten die Innenseite der Hohlwelt erreicht. So weit das Auge reichte, gab es entlang der Wand nur noch wuchernde Kristalle. Viele in Wabenstrukturen angeordnet. Sie erinnerten an Särge aus smaragdgrünem Glas, und in einem jeden lag ein länglicher Schatten. Nangog hatte sich ihre eigenen Kinder erschaffen, doch sie waren niemals geboren worden.

Nandalee erstieg einen Kristall, der weit in die Leere des Zwielichts hinausreichte. »Das letzte Stück des Weges muss ich alleine gehen. Sollte ich in einer Stunde nicht zurück sein, dann flieht. Dann gibt es keine Hoffnung mehr.« Mit diesen Worten ließ sie sich mit weit ausgebreiteten Armen rückwärts in die Leere fallen.

Nangog

Nandalee sah, wie Eleborn und Lyvianne Gonvalon zurückhielten. Sie hatte ihm nichts von ihrem Plan erzählt. Er hätte niemals zugelassen, dass sie sich dem Abgrund anvertraute. Das Letzte, was sie von ihrem Geliebten sah, waren der Schrecken und der Schmerz in seinem Antlitz. Sie wünschte, sie hätte auf andere Art gehen können. Schon als sie den Blutsee erblickt hatte, war ein Bild in ihrem Inneren erstanden: der Befehl zu springen, verbunden mit der Gewissheit, dass dies der einzige Weg war, um zu Nangog zu gelangen.

Ihre Gefährten und dann auch die himmelweiten Kristallwände verschwanden im Zwielicht. Nandalee verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum. Ihr Sturz schien endlos zu dauern. Sie schlang die Arme um ihre Brust, wappnete sich für den Aufprall. Sie spürte, dass sie hier keinen Zauber mehr zu weben vermochte.

Da war etwas, das jegliche Magie einfach in sich aufnahm. Der Bann, den Devanthar und Alben gemeinsam auf Nangog gelegt hatten, verhinderte jeden weiteren Zauber. Und doch fühlte Nandalee die Macht der Riesin mit jedem Herzschlag deutlicher.

Ihr Sturz wurde langsamer. Nandalee sah nach unten. Etwas Dunkles, Drohendes zeichnete sich im Zwielicht ab. Sie streckte die Arme aus und zog die Beine an. Ihre Fluglage änderte sich. Nun stürzte sie mit den Füßen voran dem Dunkel entgegen. Ihr Fall verlangsamte sich weiter. Als sie auf der schwarzen Ebene landete, war ihr Aufprall nicht härter, als sei sie von einer niedrigen Mauer gesprungen.

Der Boden unter ihr federte leicht nach. Eine dünne, hellgraue Schicht, wie schmutziger Gips, der aus den Fugen alter, feuchter Wände sickerte, lag auf der Ebene. Jetzt bildeten sich Risse im Gips. Verwundert sah Nandalee sich um. Sie konnte keine Spur von der gefesselten Göttin entdecken.

Ich bin hier, erklang eine Stimme in ihren Gedanken. Und ich weiß, warum du gekommen bist. Doch deine Gebieter haben nicht erkannt, welches Unrecht sie getan haben. Sie bereuen nicht. Sie schicken dich, weil sie darauf hoffen, dass ich ihnen helfen werde. Sage ihnen, ich habe nichts vergessen, und ich werde ihnen nicht vergeben.

Nandalee griff nach dem Amulett an ihrem Hals. Es lag kein Hass in der Stimme. Sie war nüchtern, unerbittlich wie die Flut eines großen Stroms, der über die Ufer trat, ohne Zorn eine Stadt davonspülte und Hunderte Leben auslöschte, ohne dabei etwas zu empfinden. Nangog war eine in Fesseln geschlagene Naturgewalt. Und sie, Nandalee, war hierhergekommen, um dieser Gewalt wieder Freiheit zu schenken. Wäre Nangog ein Fluss, dann wäre sie, Nandalee, jemand, die heimtückisch die Dämme durchstach, um den Fluten freien Lauf zu schenken.

Die Risse im Gips unter ihren Füßen weiteten sich. Er zerbrach in Tausende Schollen, die auf der schwarzen Fläche zu treiben begannen.

Ich spüre mein Herz. Gib es frei, dann darfst du gehen. Dir und deinen Gefährten schenke ich zwei Stunden. So lange will ich warten, bis ich beginne. Lauf, Nandalee! Du hast ganz und gar begriffen, was du in diesem dunklen Spiel bist. Gib mir mein Herz und flieh!

»Du musst sie nicht alle töten«, sagte Nandalee beklommen. »Sie werden begreifen …«

Du begreifst nicht, was ich tun werde. Tu, weswegen du geschickt wurdest. Wie lange wirst du leben, wenn ich und die Himmelsschlangen dir zürnen? Willst du zu den Devanthar flüchten? Du, die Elfe, die ihr Reich auf Nangog aus den Angeln gehoben hat. Erfülle deine Mission! Es ist nicht deine Aufgabe, dir Gedanken zu machen. Das haben jene getan, die dich geschickt haben.

Nandalee nahm das Bleiamulett vom Hals, in dem Nangogs Herz verborgen war, und hielt es hoch. »Du bist mit einem Bann belegt. Du kannst dich nicht rühren. Du brauchst mich, damit ich dein Herz an den richtigen Platz bringe.«

Ich kann mich nicht rühren? Nangog lachte auf, und ein plötzlicher Luftzug riss Nandalee fast von den Beinen. Der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Er war ganz nass geworden. Das Wasser stieg schnell höher. Die Elfe sah auf. Vom Horizont her eilte ihr eine Mauer entgegen, so weit ihr Blick reichte. Nandalee wandte sich um, wollte fliehen, doch auch von der anderen Seite schnellte ihr eine Mauer entgegen. Vielleicht zehn Schritt hoch, von matter, weißer Farbe, durch die sich blassblaue Adern zogen.

Ich könnte dich einfach zerquetschen. Die Mauern hielten an. Sie waren keine zwanzig Schritt mehr voneinander entfernt.

Ein Lidschlag, und du bist tot.

»Wenn ich sterbe, wer wird dann das Kleinod aus der Bleihülle befreien?« Nandalee sah auf die hellen Wände und den mit Wasser bedeckten, schwarzen Boden. Sie wusste jetzt, wo sie war!

Du glaubst, ich könnte mir mein Herz nicht holen? Wie naiv! Die Wände rückten näher auf Nandalee zu.

»Ich weiß, wo ich bin! Du bist gelähmt. Der Zauber ist nicht gebrochen. Das Einzige, was du bewegen kannst, sind deine Lider. Ich weiß, ich stehe auf einem deiner Augen, das ein Zeitalter lang reglos in Apathie ins Zwielicht geblickt hat. Wenn ich hier sterbe, wird vielleicht ein weiteres Zeitalter vergehen, bevor jemand kommt, das Amulett aufzuheben.« Nandalee dachte an die Tiefe Stadt, daran, wie sie im Dienst der Himmelsschlangen geholfen hatte, die Zwergenmetropole auszulöschen. Das sollte sich nicht wiederholen! Sie verachtete die Menschenkinder dafür, wie gedankenlos sie ihre Umwelt zerstörten, für ihre Grausamkeit und all die ungeheuerlichen Dinge, die sie im Namen ihrer Götter taten. Und dennoch, sie waren wie Kinder. Nicht sie sollte der Zorn Nangogs treffen. Die Devanthar waren es, die ihren Kindern den Weg in diese Welt geöffnet hatten, wohl wissend, was geschehen würde.

Die mauerhohen Lider wichen zurück und verschwanden im Zwielicht. Du setzt dich für die Menschenkinder ein? Du, eine Drachenelfe? Hast du meine Kinder gesehen, als du hier hinabgestiegen bist?

Nandalee wusste nicht, was Nangog meinte.

Die Schatten in den Kristallen. Sie waren kurz davor zu schlüpfen, als die Devanthar und die Alben kamen. Nur zehntausend sollten es sein. Nicht zu viele, um zur Last für meine Welt zu werden. Voller Bangen und Hoffen habe ich sie wachsen sehen. Ich habe ihre Seelen geformt: edel, mit Respekt vor allem, was lebt. Ihre Seelen konnte ich retten, als ihre Körper starben. Sie wurden die Grünen Geister. Es war meine letzte Tat, bevor mich der Bann der Alben und Devanthar fesselte, sie mein Herz herausschnitten und zugleich verhinderten, dass ich starb. Nur meine Augen konnte ich noch bewegen. Ich sollte sehen, wie sie meine Brut auslöschten, so nannten sie meine Kinder. Und nun sag mir, Nandalee, welche Gründe hätte ich, die Menschenkinder zu schonen, die auf der Welt leben, die meinen Kindern vorenthalten wurde?