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»Darf ich deine Augen einmal sehen, sobald wir ins helle Sonnenlicht treten?«

»Die besten Heiler der Stadt …«, begann Ashot.

»Lass ihn, mein Freund. Was habe ich zu verlieren?«

Der drahtige Kerl bedachte sie mit einem warnenden Blick.

Lyvianne lächelte. Sie trug immer noch ihren Helm und die Verkleidung als ein Krieger der Menschenkinder. Wenn Ashot wüsste, wer und vor allem, was sie war … Sie studierte ihn, wie er seinem Herrscher die Treppen hinaufhalf. Wie er sich umsah, auf alles achtete. Vielleicht konnte er von Nutzen sein? Den Unsterblichen zu heilen, wäre eine Kleinigkeit. Aber seine Erinnerungen zu trinken, verzehrte viel Kraft. Kraft, die sie normalerweise von ihren Opfern nahm. Aber was nutzte es, wenn sie alles über einen Herrscher erfuhr und ihn dabei zu einem Greis machte, der nicht mehr lange regieren würde?

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die Gärten erreichten. Vor dem Schlangenschlund lagen Dutzende Verwundete. Männer, in deren Augen sich das Grauen spiegelte, dem sie im unterirdischen Tempel der Zapote begegnet waren. Lyvianne nahm ihren Helm ab. Die meisten der Krieger reagierten nicht darauf, dass sie sich als Frau zu erkennen gab. Zu sehr waren sie in sich gefangen.

Ashot jedoch starrte sie mit offenem Mund an. Noch bevor er etwas sagen konnte, zog sie ihn zu sich heran. »Ich bin eine Hexe, die Kolja mit in die Tiefe genommen hat, damit ich ihm Glück bringe. Ich kann deinen Herrscher heilen, aber das hat einen Preis. Würdest du zehn Jahre deines Lebens für das Augenlicht des Unsterblichen opfern?«

Der Krieger presste die Lippen zusammen, sodass alle Farbe aus ihnen wich.

»Ich kann auch gehen. Bring ihn zu seinen Heilern, und er wird blind sein. Es liegt bei dir, Ashot.«

Nandalee, die mit den anderen auf sie gewartet hatte und ihre Worte hatte hören können, funkelte sie wütend an, hielt aber Abstand. Sie hatte begriffen, dass jeder, der zu dieser Frau in Rüstung gehörte, von nun an ebenfalls verdächtig wäre.

»Ich werde es tun«, sagte Ashot mit rauer Stimme. »Komm!« Er nahm den Unsterblichen bei der Hand. »Ihr müsst einen Augenblick rasten, Herr. Der Heiler wird sich Eure Wunden ansehen.«

Dem Unsterblichen war jetzt seine Unruhe deutlicher anzumerken. Er musste begriffen haben, wie schlimm es um ihn stand. Ashot führte ihn unter einen blühenden Kirschbaum.

»Im Schatten kann der Heiler doch nicht sehen …«

»Direktes Sonnenlicht könnte Euch schaden, Herr«, sagte Lyvianne sanft. »Ich vermag genug zu sehen. Macht Euch keine Sorgen. Bitte nehmt nun Euren Helm ab, Erhabener.« Sie blickte zu dem Krieger auf. »Knie dich neben ihn, Ashot. Hilf ihm.«

Der Krieger gehorchte, ließ sie aber nicht aus den Augen.

Lyvianne war überrascht, dass der Herrscher Arams wie ein ganz gewöhnlicher Menschensohn aussah. Er war nicht hässlich, aber keineswegs etwas Besonderes. Ein langer, in Locken gedrehter Bart reichte ihm weit auf die Brust hinab. Sein Haar war rabenschwarz, die Haut leicht gebräunt. Er hatte ein edles Antlitz, in dem sich gleichermaßen Großmut und Entschlossenheit spiegelten. Seine Augenlider und der Nasenrücken waren blutverklebt. Feine Obsidiansplitter hatten in seine Haut geschnitten, und seine Augen auf eine Art verletzt, dass er nie wieder richtig sehen würde, bliebe er der Kunstfertigkeit seiner Heiler überlassen.

Sie strich ihm sanft mit der Rechten über die Stirn, öffnete sich für all seine Gefühle und griff gleichzeitig mit der Linken nach Ashot. Seine Finger krallten sich in ihre Hand. Sie waren feucht. Deutlich spürte sie seine Angst.

Die Splitter einzeln zu entfernen, die den Unsterblichen verletzt hatten, hätte eine Stunde oder länger gedauert. Es waren zu viele! Diese Zeit hatte sie nicht! Fieberhaft dachte sie an andere Möglichkeiten und visualisierte in Gedanken ein Bild, in dem sie eine Kraft war, die all die Splitter anzog, so wie ein Magnetstein Eisenspäne an sich zog. Leise sprach sie ein Wort der Macht, um das Netz der Kraftlinien zu verändern. Hier auf Nangog war es anders gewoben. Zu zaubern fiel ihr schwerer als in Albenmark. Sie nahm von der Kraft Ashots. Sollte er verblühen, um Aaron Leben zu schenken.

Lyvianne hatte die Augen geschlossen, um sich ganz in ihre Kunst zu versenken. Sie spürte, wie sich die feinen Splitter in Aarons Fleisch bewegten. Sie war nun eins mit ihm. Spürte den Schmerz, den er fühlte, kannte seine Ängste und … Da war noch jemand! Ein anderer Geist lebte im Körper des Herrschers. Und noch einer … Immer mehr! Sie umlagerten den Aaron, der einmal ein Bauer gewesen war, spotteten über dessen Dummheit, sich mit der Priesterschaft der Zapote anzulegen, rieten ihm, sich nicht einer Unbekannten anzuvertrauen und eröffneten ihm schreckliche Visionen von dem, was der Löwenhäuptige mit einem blinden Herrscher tun würde.

Lyvianne zog sich erschrocken vor diesem Mysterium zurück, versuchte sich zunächst auf das Einfache zu konzentrieren. Sie war im Blut des Unsterblichen, in seinen Wunden, langsam zunächst und dann immer schneller werdend verwob sie diese Wunden. Ließ zusammenwachsen, was die Osidiansplitter durchtrennt hatten.

Sie sah durch seine Augen. Sah, wie die Kirschbaumkrone über ihnen, ein verschwommenes Bild aus Weiß und Grün, langsam wieder an Form gewann, bis sie zuletzt jedes Blatt und jede Blüte deutlich vor sich sah.

Ein Sturm von Stimmen brandete in Aarons Verstand auf. Gellend warnten sie ihn vor der Hexe, die nach ihrer aller Seele griff. Ihre Gedanken waren Gift und Dunkelheit. Doch dann erklang mitten unter ihnen eine Stimme, die alle anderen beherrschte. Der, den sie abfällig den Bauern nannten, der Mann, der einmal Artax geheißen hatte, war von einer Macht, die all die anderen verstummen ließ. Lyvianne betrachtete die Erinnerungen an sein Leben. Es war reich an Freud und Leid. Die anderen Geister in ihm berührte sie nur flüchtig. Sie waren klein, gefangen in einer Selbstgefälligkeit, die ihrem Dasein jeden Glanz genommen hatte. Der Mann, der einmal Artax gewesen war, war anders. In ihm brannte ein Feuer. Er wollte die Welt der Menschenkinder verändern, sie zu einem gerechten Ort machen, wo niemand mehr Hunger leiden oder die Willkür der Herrschenden fürchten musste. Sie sah all die Kämpfe, die Artax ausgefochten hatte, seine verzweifelte Liebe zu einer Barbarenprinzessin und seinen Abstieg in jenes düstere Tal, wo er dem eberköpfigen Devanthar begegnet war. Dort war sein Schwert zum Geisterschwert geworden, und er war einem Geheimnis nahe gekommen, das die Devanthar eifersüchtig hüteten.

Lyvianne zog sich aus den Gedanken des Unsterblichen zurück und öffnete ihre Augen. Einen Moment starrte sie ihn desorientiert an. Zu deutlich waren noch die Bilder seiner Erinnerungen, sie überlagerten sich mit dem, was ihre Augen ihr zeigten.

Der Herrscher lächelte sie an. »Danke«, sagte er mit warmer Stimme.

Lyvianne nahm ihre Hand von seiner Stirn. Flüchtig sah sie zu Ashot. Der Krieger wirkte erschöpft. Seine Schläfen waren ergraut, aber er hatte nicht zu viel von seinen Jahren verloren. Seine Veränderung mochte für andere von den Schrecken dieses Tags herrühren. Sie hatte keine allzu deutliche Spur hinterlassen.

Aaron ergriff ihre Hand. »Du musst mit mir kommen. Du könntest viel Leid von den Menschen nehmen, schöne Fremde.«

Lyvianne sah ihm tief in die Augen. Einsamkeit hatte sich dort eingenistet, hinter dem Strahlen, das jene blendete, die nur den Unsterblichen sehen wollten. »Ich kann nicht. Mein Schicksal ist ein anderes. Ich bin wie der Wind, du kannst mich nicht halten. Es ist mir bestimmt weiterzuziehen.«

Er ließ sie los. In seinen Augen spiegelte sich nun Bedauern. Er würde niemals versuchen, sie mit Gewalt aufzuhalten, das wusste sie. Dieser Mensch war tatsächlich ganz anders als die wenigen anderen Menschenkinder, die sie bis zum Grund ihrer Seele kennengelernt hatte.

Lyvianne setzte wieder ihren Helm auf und zog sich zu ihren Gefährten zurück. Sie ignorierte die schneidende Bemerkung Nandalees, dass bald die halbe Stadt einstürzen könnte und keine Zeit für irgendwelche Spielchen blieb. Lyvianne sah das anders. Sie war hier noch nicht fertig. Sie hielt sich dicht an Bidayns Seite, als sie die Tempelgärten verließen, den weiten Platz vor dem Weißen Tor querten und sich in den engen Gassen drängten, flankiert von einfachen Häusern, deren Flachdächer nun dicht gedrängt voller Gaffer standen, die sehen wollten, was in der Tempelstadt der Zapote vor sich ging.