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Bald hatten sie eine der endlosen Treppen erreicht, die die Terrassen der Stadtviertel miteinander verbanden. Nandalee hatte einen Weg abseits der Hauptstraßen gewählt. Sie zog es vor, im Halbdunkel enger Stiegen zu bleiben. Sie erklommen ausgetretene Stufen, glitschig vom Unrat, der achtlos aus Fenstern geschüttet wurde, und von dem Wasser, das von der Wäsche tropfte, die an einem dichten Spinnennetz von Leinen hing und den Blick auf den Himmel zu einem Mosaikbild werden ließ. Lyvianne bemerkte, wie angespannt Nandalee immer noch war, als fürchte sie, ihre Mission könne noch im letzten Augenblick eine tragische Wendung nehmen. Wussten die Devanthar vielleicht schon, was geschehen war, und würden sie angreifen?

Lyvianne würde sich nicht von den Ängsten der jungen Elfe anstecken lassen. Sie zog Bidayn dicht an sich heran. »Ich habe dir ein Versprechen gegeben. Ich werde es einlösen. Lass uns im Gedränge auf dem Platz vor der Goldenen Pforte verschwinden.«

Bidayn wirkte ängstlich. »Wir können doch nicht …«

»Willst du eine neue Haut haben, glatt wie Seide? Dann folge mir!«

Neue Wege

Auf dem Platz vor der Goldenen Pforte drängten sich Menschen, Maultiere, Sänften und Kamele. Die Luft schwirrte von Flüchen in allen Zungen der Menschenwelt, von Gebeten der Ängstlichen und den lautstarken Prahlereien jener, die ihre Angst hinter großen Worten versteckten. Auch alle Düfte Nangogs hatten sich hier versammelt. Der Geruch von Safran, Pfeffer und Koriander mischte sich mit dem Duft gegrillten Fleisches, der von den zahllosen kleinen Bratstuben, die den weiten Platz säumten, aufstieg und sich wie eine Glocke über den Platz legte. Wasserverkäufer mit großen Amphoren auf den Rücken geschnallt und Bäckerburschen mit Stangen voller Sesamkringel zogen durch die Menge. Gaukler und Musiker spielten für die Wartenden, die mit Karawanen durch das magische Tor, das die Welten miteinander verband, in ihre ferne Heimat ziehen wollten. Nur nachts kehrte hier für wenige Stunden Ruhe ein. Die Waren einer ganzen Welt mussten durch dieses Nadelöhr.

Nandalee wusste, dass ihnen nicht mehr die Zeit blieb, sich unter den Wartenden einzureihen. Sie vertraute Nangog nicht. Hatte die Göttin ihren Plan, die Goldene Stadt einfach von den Hängen des Weltenmunds zu wischen, wirklich aufgegeben? Nangog hatte sie geringer als ein Staubkorn auf ihrem Auge genannt. Warum sollte sie sich an das Versprechen ihr gegenüber halten?

Und selbst wenn sie es tat, was war für sie ein kleines Beben? Nandalee wusste nur eines, wenn es so weit war, wollte sie nicht in der Goldenen Stadt sein, um die Rache der Riesin zu erleben. Es würde Tausende Tote geben, dachte sie niedergeschlagen. Obwohl sie alles getan hatte, um dies zu verhindern. Wieder war sie gescheitert.

»Wo ist Lyvianne?«, fragte Gonvalon plötzlich.

Nandalee fuhr herum. Lyvianne und Bidayn waren im Gewühl der Menge verschwunden. »Diesmal warten wir nicht!«, entschied sie. Ihnen lief die Zeit davon. Nandalee hatte schon nicht begreifen können, was Lyvianne mit dem Unsterblichen getan hatte. Sie alle in Gefahr zu bringen, um dessen Wunden zu heilen, passte im Grunde gar nicht zu der Zauberweberin. Wahrscheinlich hatte sie in den Erinnerungen des Herrschers gelesen – doch das zu tun war nicht ihre Aufgabe. Sie hatten ihre Mission erfüllt und das Letzte, was Nandalee nun noch zu tun blieb, war, all ihre Gefährten lebend zurück nach Albenmark zu bringen.

»Wir können sie doch nicht einfach zurücklassen«, sagte Gonvalon schockiert. »Wir gehören zusammen. Wir stehen füreinander ein. Selbst für die Toten und erst recht für die Lebenden.«

Nandalee war verletzt. Ihr war nicht entgangen, wie sehr ihn ihre Entscheidung, Manawyns Leiche zurückzulassen, verstört hatte. Aber es ging hier um die Lebenden. »Es ist Lyvianne, die uns im Stich lässt, und ich bedauere, dass sie Bidayn verführen konnte, mit ihr zu gehen. Für uns gibt es kein Zurück mehr.« Sie deutete auf das mächtige Portal zwischen den Götterstatuen. »Dies ist unser Weg nach Albenmark, und in kurzer Zeit könnte er sich für lange Zeit schließen. Nangog ist voller Zorn aus ihrem magischen Schlaf erwacht. Was sie bislang getan hat, war Teil ihrer Träume in diesem Schlaf. Jetzt ist sie wach. Und sie sieht, dass es kein Traum war, was die Menschenkinder ihrer Welt angetan haben. Wie sie ganze Landstriche in Wüsten und ihre Flüsse in Kloaken verwandelt haben, Wälder zerstörten, die in Jahrhunderten gewachsen waren, und ihren Himmel mit Rauchschwaden überzogen. Als sie erwachte, wollte sie diese ganze Stadt vom Hang fegen.«

»Mäßige dich«, zischte Nodon. »Wir werden schon angestarrt.«

Nandalee hatte ihre Muttersprache benutzt, es konnte also kein Menschenkind verstanden haben, worüber sie redete. Aber sie hatte sich derart in Rage gesteigert, dass alle Gespräche um sie herum verstummt waren, und zahllose Menschenkinder sie, diesen seltsamen Krieger mit der hellen Stimme, anstarrten. Nodon hatte recht. Dieser Ort war der schlechteste der ganzen Stadt, um Aufmerksamkeit zu erregen. In der Goldenen Pforte stand einer der Silberlöwen der Devanthar und wachte über die Karawanen, die kamen und gingen. Und manchmal waren sogar die Götter selbst hier.

Nandalee packte Nodon. »Los, lies in meinen Gedanken, sei eins mit mir.« Lieber hätte sie sich Gonvalon offenbart, doch seit der Schwertmeister all seiner magischen Gaben durch Matha Naht beraubt worden war, war dies nicht mehr möglich. »Tu es!«

Nodon zog seine Hand zurück und warf Gonvalon einen fast entschuldigenden Blick zu. »Ich glaube dir«, sagte er ruhig. »Du musst mir nichts beweisen.«

»Aber wir haben Nangog befreit«, sagte Eleborn. »Sie kann doch nicht …«

»Sie wird auf uns keine Rücksicht nehmen. Wir sind Staubkörner für sie. Albenkinder! Geschöpfe jener Götter, die kamen, um sie in Fesseln zu schlagen. Dass wir sie nun befreit haben, ändert nichts daran, dass sie die Alben ebenso hasst wie die Devanthar. Und dass wir noch in der Stadt sind, wird sie nicht von ihrer Rache abhalten.« Sie deutete auf die enthauptete Gottheit bei der Goldenen Pforte. »Vor einigen Wochen erst hat die Stadt ein Erdbeben erschüttert, als Nangog noch schlief. Du hast die zerstörten Ankertürme gesehen, die eingestürzten Häuser. Diesmal wird es schlimmer werden. Sie ist voller Zorn. Ich möchte nicht hier sein, wenn ihre Wut die Stadt trifft. Deshalb können wir Lyvianne und Bidayn nicht mehr suchen. Ich hatte euch eindringlich gewarnt, dass wir keine Zeit zu verlieren haben, und Lyvianne hielt sich dennoch mit diesem Unsterblichen auf. Nun setzt sie unser aller Leben erneut aufs Spiel. Ich dulde nicht, dass einer von euch zurückgeht, um nach ihr zu suchen. Sie hat ihre Entscheidung getroffen. Wir schulden ihr nichts.«

»Sie hat Manawyn zurückgeholt. Sie hat ihr Leben gewagt, damit wir unsere Mission erfüllen«, entgegnete Gonvalon vorwurfsvoll. »Ich kann jetzt nicht einfach gehen.«

»Sie schert sich einen Dreck um uns«, versuchte nun auch Nodon, ihn zu überzeugen. »Sie hätte wenigstens sagen können, was sie will. Und warum ist Bidayn mit ihr gegangen? Bidayn ist nicht einmal eine Drachenelfe. Wo zieht sie die Kleine hinein?«

»Wenn sie sich falsch verhält, ist das keine Rechtfertigung für mich, es auch zu tun. Wir sollten zusammenstehen.«

Nandalees Gedanken überschlugen sich, sie wollte ihm widersprechen, doch dann besann sie sich. Die Welt um sie herum verblasste – es gab nur noch Gonvalon. Sie sah sein schmales Gesicht, seine melancholischen Augen, die so oft vor Liebe übersprühten, wenn er sie betrachtete, den weichen Mund, den sie unzählige Male geküsst hatte, den sehnigen Körper, der in den schönsten Nächten ihres Lebens neben ihr gelegen hatte. Sie dachte an sein Lachen, wenn sie etwas Verrücktes getan hatte. Und sie traf eine Entscheidung.