Gonvalon würde lieber in einer Stadt zurückbleiben, die dem Untergang geweiht war, als gegen seine Moralvorstellungen zu verstoßen. Das war der Mann, in den sie sich verliebt hatte. Der weiße Ritter, der stets auf der Seite des Lichtes blieb, selbst wenn die Himmelsschlangen ihn als Mörder aussandten. Sie wusste, wie sehr er an diesem Leben litt und dass sein Moralkodex das Einzige war, was ihm Halt gab. Sie würde ihn nicht zwingen, diesen Kodex gegen ihre Liebe abzuwägen. In den vergangenen Wochen war er ihr immer gefolgt. Nun war es an der Zeit, dass sie sich ihm anschloss, auch wenn es närrisch erschien, was er tun wollte.
»Ich erkläre unsere Mission für beendet«, sagte sie langsam. Ein letzter Zweifel, ob sie das Richtige tat, lag noch in ihren Worten. »Jeder ist nun frei, seiner Wege zu gehen.«
Die drei Drachenelfen sahen sie erstaunt an.
»Und du?«, fragte Eleborn verwundert. »Was wirst du tun?«
»Ich bleibe bei Gonvalon.« Dies laut auszusprechen machte ihr das Herz leichter. Es war keine vernünftige Entscheidung, aber sie wusste, ganz gleich, was auch geschehen mochte, sie würde es nicht bereuen.
Allein der Blick, voller Stolz und Liebe, den Gonvalon ihr in diesem Augenblick schenkte, war es wert, alles zu riskieren.
»Ich gehe mit euch«, sagte Nodon in seiner knappen Art.
Eleborn zögerte kurz, dann nickte er. »Ich auch.«
Nandalee hatte sich gewünscht, nicht diese Verantwortung tragen zu müssen. Und doch war sie auch froh, dass ihre Gruppe nicht zerbrochen war. Sie würden Nangog die Stirn bieten und gemeinsam mit den Menschenkindern erleiden, was sie entfesselt hatten.
Zweites Buch
Der Himmel in Flammen
Der Täuscher
Gleich würden sie den Hund hereinlassen. Den größten von ihnen.
Dojan hatte sie stets gefürchtet, diese Hunde. Deshalb war er zum Aufseher der Zwinger geworden, zum Hundeführer. Er hatte entschieden, dass es besser sei, der zu sein, der die Leine hält. Den Hunden hatte er nichts vormachen können – sie hatten seine Furcht stets gespürt. Er hatte sie sich mit Peitschenhieben und Dornhalsbändern gefügig gemacht, sie hatten gekuscht, aber sie hatten es gewusst.
Nicht so ihre Herren. Wie er sie hasste, diese selbstgefälligen Grundbesitzer. Sie hielten keine Sklaven, sie ließen Schuldner für sich arbeiteten. Und diese Schuldner entkamen ihren Verpflichtungen erst mit dem Grab. Manche nicht einmal dann! Mit Schaudern dachte er an den Fleischhandel mit der Goldenen Stadt. Dojan blickte hinauf zu den dunklen Sehschlitzen, oben, dicht unter der Decke der kleinen Arena. Die Mauern waren weiß getüncht, aber er konnte die Flecken unter der Tünche sehen. Sie ließen sie jedes Mal neu tünchen nach so einer Hinrichtung. Dann sah Dojan zum Gitter, das sich bald heben würde. Er konnte den Hund hecheln hören. Reißer nannten sie ihn. Ein wahres Ungeheuer. Fast so groß wie ein Pferd, mit struppig grauem Fell und himmelblauen Augen. So blauen Augen wie bei Hanna.
Er hätte wissen müssen, in welche Gefahr er sich begab. Sie war zu auffällig gewesen mit diesen leuchtenden Augen, ihrem goldenen Haar und ihrer selbstverliebten Art. Hanna hatte nicht die Fähigkeit, sich zu verstecken. Sie hatte nicht unsichtbar werden können. Nichts hatte ihrem Wesen mehr widersprochen.
Sie hatten sie gefunden. Und sie hatte ihnen seinen Namen genannt. Den Namen des Herrn der Bluthunde. Und ausgerechnet dieser Vollstrecker der Gerechtigkeit der Ungerechten war fehlbar gewesen.
Dojan ließ das Gitter nicht aus den Augen. Wann würde es sich endlich heben? Er war doch da! Er konnte Manasses Blicke spüren. Diese satten, selbstgefälligen Blicke! Weidete er sich an seinem Elend? An seinen gebrochenen Beinen. Er würde nicht weglaufen können. Sie hatten ihm mit Knüppeln die Knie zerschlagen, die Schienbeine und die Füße. Aber er hatte ihnen nichts gesagt. Drei Tage lang, bis sie des Fragens müde wurden. So gerne hätten sie gewusst, wie vielen er geholfen hatte. Das war seine Rache, sie im Zweifel zu lassen, wer von denen, die er als von Hunden zerrissen gemeldet hatte, in Wirklichkeit geflohen war. Wie oft hatte er sie hintergangen? Und was war aus jenen geworden, die ihren Hass auf die Großgrundbesitzer am Fluss niemals vergessen konnten? Würde einer von ihnen wiederkommen?
Der Gedanke an diese Zweifel, die seine Peiniger niemals verlassen würden, hatte ihm die Kraft gegeben, seine Martern zu ertragen. Hanna hatte nichts gehabt, woran sie sich festhalten konnte. Sie hatten sie zusehen lassen, wie sie ihn schlugen, nachdem sie ihnen seinen Namen verraten hatte. Und Hanna hatte ihnen auch von seiner Furcht vor Hunden erzählt. Sie hatte alles erzählt, und als sie nichts mehr preiszugeben hatte, hatte sie Geschichten erfunden, um nicht geschlagen zu werden und das Unvermeidliche hinauszuzögern. Gestern Nacht hatten sie sie zum Krebsbecken gebracht und an den Pfahl am Ufer gebunden. Er hatte zusehen müssen, wie sie aus dem Wasser gekommen waren. Jene großen Scherenträger, die mit einem Schnippen Zehen abtrennen konnten. Sie wurden gehätschelt und gemästet, um irgendwann in den Kochtöpfen der Reichen in der Goldenen Stadt zu landen. So würde auch Hanna wieder in die Goldene Stadt zurückkehren, von der sie immer geträumt hatte. Sie würde in die Häuser der Reichen kommen … Dafür hätte sie alles gegeben, als sie noch lebte. Dojan lachte bitter. Er hätte ihr nicht bei ihrer Flucht helfen dürfen. Er hätte es besser wissen müssen. Sie war nicht dazu geschaffen gewesen, unsichtbar zu werden.
Irgendwo hinter dem Gitter scharrte Reißer ungeduldig mit den Pfoten. Im Grunde hatte er Glück mit seiner Angst vor Hunden. Reißer würde ihn schnell erledigen. Es wäre nicht so wie letzte Nacht mit Hanna. Als sie ihrer Schreie überdrüssig wurden, hatten sie ihr die Stimmbänder durchtrennt, nicht etwa die Kehle. Wie er sie hasste, diese feisten Schweine. Er malte sich aus, was er ihnen antun würde. Sie hatten ihn viel über Grausamkeit gelehrt. Dojan schloss die Augen. Sein letztes Gefühl vor dem Tod sollte nicht Hass gewesen sein. Er versuchte, auch den pochenden Schmerz in seinen Beinen zu vergessen, der sich umso stärker meldete, als er den Hass losließ. Er dachte an all jene, die er gerettet hatte, die in Sicherheit leben konnten, weil er seinen Herren ein paar blutige, zerrissene Kleider gezeigt hatte.
Er hatte als einer der erfolgreichsten Hundeführer gegolten, die der große Fluss je gesehen hatte. Dojan lächelte still in sich hinein. Besonders gerne dachte er an das erste Mädchen, dem er zur Flucht verholfen hatte. Was für eine wunderbare Lügnerin sie gewesen war. Und wenn er sie angeschaut hatte, hatte er jede dieser Lügen wider besseren Wissens glauben wollen. Sie war klug gewesen und schön. Alles, was er ihr je erzählt hatte, hatte sie in sich aufgesogen, wie ein ausgetrockneter Schwamm Wasser aufnimmt. Ihr hatten die Götter alles im Übermaß geschenkt, was man brauchte, um in der Goldenen Stadt zu überleben. Bei ihrem größeren Bruder waren die Götter nicht so freigiebig gewesen. Er war ein braver Junge, stark für sein Alter, ehrlich und strebsam. Er hatte immer auf Zarah achtgegeben, sie beschützt, so gut er nur konnte, und gar nicht bemerkt, wie oft sie es war, die die Fäden ihres Schicksals in der Hand hielt.
Mit den beiden hatte sein Treiben angefangen. Er hatte sie unaufdringlich ermutigt zu fliehen, indem er Geschichten erzählt hatte von Dienern, denen es geglückt war zu entkommen. Und als die Geschwister dann endlich den Mut fanden, es zu tun, hatte er ihnen den Rücken freigehalten. Er hatte die anderen Hundeführer auf falsche Fährten geschickt und schließlich zerfetzte, blutige Kleider vorgelegt und behauptet, er habe gesehen, wie die Flusskrokodile sie geschnappt hatten. So hatte niemand mehr nach ihnen gesucht. Niemand war so frei wie die Toten, dachte er lächelnd.
Mit einem Scharren hob sich das Gitter. Er hörte das Knurren von Reißer. Gleich würde auch er zu den Toten gehören. Zu den Freien!