Ein einziger Biss trennte Manasses Hand mit der Fackel vom Arm.
Chimären
»Und so begab es sich, dass sich die Göttin in der Erde gegen ihre Fesseln aufbäumte. Und auch wenn sie fern der Macht war, die sie einst besessen hatte, so vermochte sie nun doch Ungemach über jene Welt zu bringen, die aus dem erschaffen worden war, was sie einst Daia gestohlen hatte. Sie rang mit ihren Ketten, ohne sie zerreißen zu können. So war ihr Zorn nur als fernes Donnergrollen zu vernehmen und vermochte nur einige kleine Kinder zu erschrecken, die noch an der Brust ihrer Mütter lagen. Und so sann sie darauf, das Gift ihrer Rache auf andere Art in ihre Welt zu tragen, der fleißige Hände fruchtbare Äcker abgerungen hatten, und wo die Kinder der sieben Reiche Ordnung brachten, wo zuvor nur Wildnis und Chaos geherrscht hatten.
Und ihr böser Wille erstarkte in den Geistern, die durch die Nacht streiften, und gab ihnen eine Zaubermacht, die sie zuvor nicht besessen hatten. So wurden sie zu Seelenverschlingern, die Menschenkinder in der Einsamkeit heimsuchten, um sie eins werden zu lassen mit Geschöpfen der Wildnis und Dunkelheit. So wurden jene Tapferen, die in den Bergen nach dem Gold der Erde suchten, von Geiern und Adlern heimgesucht, und die Geister verschmolzen ihre Leiber und erschufen widernatürliche Chimären, halb Mensch und halb Geschöpf der Wolken. Ähnlich erging es Jägern, die eins mit Wölfen und Tigern wurden. Doch wurde mir auch berichtet von Unglückseligen, die über den Frieden der Totenäcker wachten und die verschmolzen mit jenen, die sich, getrieben von der rachsüchtigen Göttin, aus der Erde erhoben.
Solcherart war dies Übel, dass es überall zugleich geschah, wo Menschen in der Neuen Welt lebten. Und bald gab es keinen Ort mehr, an dem sie vor den Chimären der gefesselten Riesin sicher waren. Doch bald schon ward den Unsterblichen zugetragen, was in ihren fernsten Provinzen geschah, und sie entschieden, einen großen Rat einzuberufen, um des Dunkels Herr zu werden, das die friedlichen Hütten ihrer Untertanen befallen hatte (…)«
Anmerkung: Abschrift eines alten Textes, den die Elfe Valynwyn in der Bibliothek der Menschenkinder in ihrer Stadt Iskendria entdeckte. Auch wenn die Geschichte über die Entstehung der Chimären grundsätzlich glaubwürdig erscheint, spricht doch einiges dafür, dass der Verfasser sich nie auf Nangog aufgehalten hat und auch nicht zeitnah zu den geschilderten Ereignissen gelebt hatte.
Jenseits des roten Tors
Bidayn wollte eine neue Haut mehr als alles andere, aber es machte ihr Angst, sich gegen die Befehle Nandalees gewandt zu haben. Ihr fehlte die Selbstsicherheit Lyviannes, die unerschrocken voranschritt und sich einen Weg durch das Gedränge der Menschenkinder bahnte. Allerorten raunte man, ein Krieg zwischen den Zapote und dem Unsterblichen Aaron von Aram sei ausgebrochen. Die Stadt schien wie von einem Fieber ergriffen. Tausende drängten in Richtung der Viertel, über die sich dunkle Rauchschwaden erhoben hatten – jene Gärten, denen Bidayn und Lyvianne gerade erst entronnen waren. Wüssten die Menschenkinder, welche Kreatur dort in der Tiefe lauerte, sie würden ihr Heil in der Flucht suchen.
Bidayn fragte sich, ob der gefiederte Drache wohl in die Stadt hinaufkäme, um ihrer Fährte zu folgen. Lyvianne war davon überzeugt, dass er die Höhle nicht verlassen würde. Aber nur, weil er das bisher noch nie getan hatte, hieß das doch nicht, dass er es grundsätzlich nicht konnte … Ängstlich behielt sie die Rauchschwaden im Auge und lauschte auf die Rufe der Menschenkinder. Waren da Anzeichen von Panik zu hören? Als sie zum wiederholten Male den Stand der Sonne überprüfte, blieb Lyvianne stehen.
»Wir haben sicher noch etwas Zeit, bevor das Beben kommt, von dem Nandalee gesprochen hat. Sie sagte doch, dass die Göttin noch ihre Kräfte sammelt«, beruhigte ihre Meisterin sie. »Fürchte dich nicht, ich werde dich hier herausbringen. Aber du wirst mir helfen müssen. Den Zauber, den es zu wirken gilt, kann ich nicht alleine weben. Du wirst das Wort der Macht sprechen, das uns die Kraft des Blutes schenkt.«
Bidayn nickte, obwohl sie ein Schauer durchlief. Sie war sich bewusst, was das bedeutete. Half sie Lyvianne bei diesem Zauber, dann hätte sie sich auf immer der dunkleren Seite der Magie verschrieben. Hatte sie diesen Weg einmal eingeschlagen, gab es kein Zurück mehr.
Schweigend folgte sie ihrer Meisterin, die ihren Weg durch die stinkende Stadt wieder aufgenommen hatte. In einer dunklen Gasse kauerte ein kleiner, schwarz-weißer Hund, der sein eigenes Gespei mit gierigen Happen wieder verschlang. Er erschien der jungen Elfe wie ein Sinnbild für die Menschenkinder, die sich hier inmitten von Dreck und Elend niedergelassen hatten. Sie waren in der Hoffnung auf schnellen Reichtum gekommen – und nun kauerten sie im Dreck und verschlangen Tag für Tag aufs Neue ihr eigenes Gespei, während nur jene reicher wurden, die auch in ihrer alten Heimat schon reich gewesen waren. All die anderen aber fraßen ihre unerfüllten Träume in sich hinein. Tag für Tag, bis der Tod an ihre Tür klopfte.
Endlich erreichten sie das schöne Haus der Seidenen, und Lyvianne klopfte an das rote Tor. Bidayn lächelte. Niemand in dem Haus ahnte, dass der Tod an ihre Tür gekommen war. Plötzlich empfand sie keine Gewissensbisse mehr wegen dem, was sie tun wollten. Die Menschenkinder lebten ohnehin einem schnellen Tod entgegen. Es spielte keine Rolle, wenn er ein wenig früher kam. Sie waren zum Tod geboren. Sie hingegen wäre immer noch jung, wenn die Urenkel der Seidenen das Licht der Welt erblickten. Sie lachte leise auf. Ein schlechtes Bild hatte sie da gewählt, denn die Seidene würde natürlich keine Urenkel haben. Nicht einmal Söhne oder Töchter.
Eine kleine Luke öffnete sich in der Tür. Die beiden Elfen nahmen ihre Helme ab, sodass der Türwächter sie erkennen konnte. Er öffnete unverzüglich, obwohl er mit großen Augen ihren kriegerischen Aufzug betrachtete. »Die Herrin dachte, ihr wärt fortgegangen«, sagte der schielende Mann konsterniert.
»Nun sind wir wieder zurück!«, entgegnete Lyvianne leichthin. »Wo finden wir die Herrin?«
Der Türwächter zuckte die Schultern. »Sie ist verschwunden, obwohl keiner sie hat gehen sehen«, sagte er unübersehbar unglücklich darüber, dass sein wichtiger Posten durch dieses Verhalten der Seidenen ad absurdum geführt wurde.
Lyvianne sah zum Himmel hinauf. »Wir warten auf sie. Es bleibt noch Zeit.«
Bidayn wünschte sich, sie wäre so ruhig wie ihre Meisterin. Unauffällig musterte sie die gewölbte Decke des kleinen Torhauses, in dem sie standen. War dies ein guter Platz bei einem Erdbeben? Waren die Steine hinter dem weißen Putz wirklich ordentlich gesetzt?
Der Diener verschloss sorgfältig das rote Tor und kauerte sich wieder auf den grauen Stein, auf dem ein schmuddeliges, gelbes Kissen lag. Den Ort, an dem er sein Leben damit verbrachte, darauf zu warten, dass es klopfte.
Eine junge Dienerin blickte von der holzgefassten Brüstung im ersten Stock zu ihnen hinunter. Bidayn kannte sie. Ihre Aufgabe war es, die kostbaren Seidenkleider ihrer Herrin zu hüten. Nun lief sie eilig die Treppe hinab. Obwohl sie sich an einem freundlichen Lächeln versuchte, war ihr deutlich die Missbilligung darüber anzumerken, Frauen im Gewand von Kriegern vor sich zu sehen.
»Die Herrin war enttäuscht, dass ihr ohne Abschied gegangen seid, nachdem sie so gut zu euch gewesen ist«, sagte sie spitz. Ihr langes, honigfarbenes Haar hatte sie straff zurückgekämmt und zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über die Schulter fiel und fast bis zu ihrer Hüfte reichte.