Sie hat beneidenswert weiße Haut, dachte Bidayn eifersüchtig. Wahrscheinlich bestahl sie die Seidene und nutzte heimlich deren Tinkturen und Salben.
»Wir sind durstig, Mädchen«, sagte Lyvianne in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, wer Herrin und wer Dienerin war. »Ich habe den frischen Pfirsichsaft vermisst, den es hier stets gab. Bring uns zwei Becher davon.«
»Wie Ihr wünscht«, murmelte das Mädchen unterwürfig und eilte in Richtung Küche davon.
Bidayn war noch immer von diesem plötzlichen Wechsel im Verhalten der Dienerin verblüfft, als Lyvianne sich lächelnd an sie wandte. »Mach dir keine Sorgen. Du weißt, dass sie in der Hitze der Mittagsstunden fast immer zu Hause ist. Sie wird kommen. Ich kann es fühlen.«
Sicherheit
Zarah spähte zwischen den Vorhängen der Sänfte zu den Wachen und fluchte leise. Erst war sie völlig geschockt gewesen, dass ihre geplante Gefangennahme durch Arcumenna vereitelt worden war. Sie hatte zu den wenigen Auserwählten gehört, denen Barnaba in aller Deutlichkeit geschildert hatte, was die Stadt erwartete, wenn Nangog erwachte. Es gäbe dann nur noch einen einzigen sicheren Ort – hoch am Himmel musste man sein! In den Straßen der Goldenen Stadt wären Leben und Tod allein Glückssache.
Als Arcumenna sie wie irgendeine Dienstmagd genommen hatte, war die Erstarrung von ihr gefallen. Ganz bewusst hatte sie sich aufgeführt wie eine Magd. Ihr machte es nichts aus, wenn jemand dabei zusah, wie sie fickte. Auch nicht, wenn sie an einer schmutzigen Hofwand entwürdigt wurde. Sie hatte Schlimmeres erlebt.
Ganz bewusst hatte sie die Gebrochene gespielt. Sie hatte kein Interesse an Arcumenna mehr. Sie wollte fort von hier. Dort, wo das Schicksal Barnaba und all die anderen Gläubigen hinführen würde, war ihr Platz. Sie hatte gehofft, dass Arcumenna erkannte, dass er mit seiner Tat nicht nur sie, sondern vor allem auch sich selbst gedemütigt hatte. Hatte gehofft, dass er an einem apathischen Wrack alles Interesse verlieren würde. Stattdessen hatte er sie waschen lassen, sie in dieses kratzende Kleid gesteckt und der Willkür einer Dienerin überlassen, die sich wohl schon ausmalte, wie sie ihren Platz im Bett des Arcumenna übernehmen würde. Zarah lachte. Es war ein harter, freudloser Laut. Dann blickte sie wieder nach draußen.
Sie hatten gerade das Portal am Fuß der langen Treppe passiert, die hinauf zum Palast des Statthalters der Ischkuzaia führte. Es war nun nicht mehr weit bis zu ihrem Stadthaus. Dies war eines der besseren Viertel. Die Häuser waren hoch und aus Stein errichtet. Sie stellte sich vor, wie die Wände auf die Straße stürzten. Es blieb nicht mehr viel Zeit, und sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Doch auch das war nicht mehr ihre Sorge. Nicht sie entschied, wohin sie ging. Fünf Krieger aus Arcummenas Leibwache, angeführt von dem Einäugigen Horatius, eskortierten ihre Sänfte. Horatius war unter allen Hauptleuten des Statthalters der mit Abstand phantasieloseste. Ihn würde sie nicht verführen können. Er würde stets an ihrer Seite bleiben, bis sie in den Palast des Statthalters zurückgekehrt war. Andere hätte sie vielleicht verführen können, sie dazu verleiten können, gemeinsam mit ihr durchzubrennen. Aber dieser Mann begeisterte sich nicht an Frauen oder an Wein. Ihn interessierten nur Waffen und Geschichten über Schlachten. Er hatte nicht begriffen, worum es im Leben ging.
Wieder spähte Zarah durch die Vorhänge. Die Zeit wurde knapp. Sie mussten fort von der Straße. Das war der allerschlechteste Ort, an dem man bei einem bevorstehenden Erdbeben sein konnte. Ärgerlich feuerte sie die Sänftenträger an, nicht wie fußkranke Maultiere daherzuschleichen. Sie musste ihr Haus erreichen!
Zarah dachte an den tiefen Keller mit der gewölbten Decke, in dem sie ihren Wein lagerte. Dieses starke Gewölbe würde gewiss allen herabstürzenden Trümmern widerstehen. Erneut befahl sie den Sänftenträgern, schneller zu laufen. Es war nicht mehr weit.
Wenn sie erst ihr Haus erreichte, wäre sie in Sicherheit!
Ich rieche Blut
Gonvalons Blick wanderte über die Menschenmenge vor der Goldenen Pforte. Gemeinsam mit Nandalee, Nodon und Eleborn stand er auf den Stufen des Tempels der Schöpfer, in dem alle Devanthar einen eigenen Altar hatten. Von hier aus hatten sie den besten Überblick, obwohl er nicht glaubte, dass sie Lyvianne und Bidayn hier noch entdecken würden. Was immer sie bewogen hatte, ihre Gefährten zu verlassen, hatte sie mit Sicherheit zurück in die Stadt geführt. Aber wohin?
Gonvalon sah zu Nandalee. Sie war ganz die Jägerin. Sie bemerkte nicht, dass er sie beobachtete, so sehr war sie darauf konzentriert, den weiten Platz nach Bidayn und Lyvianne abzusuchen. Vielleicht wollte sie sich aber auch nicht anmerken lassen, dass sie seine Blicke spürte. Er wusste, dass sie gegen ihre Überzeugung geblieben war – seinetwegen. Sie hatte sich hier auf Nangog verändert. War härter geworden, vermochte ihre Gefühle besser zu beherrschen. Gonvalon wusste, wie schwer sie darum gerungen hatte. Sie hatte bereut, aus Frustration und Wut den Trollprinzen mit einem Pfeil niedergestreckt zu haben, der vor langer Zeit ihre Jagdbeute erlegt hatte. Sie wollte beherrscht sein und keine falschen Entscheidungen mehr treffen. Er sehnte sich danach, mit ihr allein zu sein. Er wollte mit ihr reden. Vor den anderen würde sie keine Kritik dulden. Wenn sie eine Drachenelfe sein wollte, dann durfte die Grundlage ihrer Entscheidungen nicht sein, was andere von ihr erwarteten. Sie allein war das Maß, denn sie war es, die künftig mit ihren Taten leben müsste. Hatte sie das begriffen, als sie entschied, nach Lyvianne und Bidayn zu suchen? Er hatte seine Zweifel.
»Vielleicht weiß ich, wo sie sind«, sagte Nodon gepresst.
Nandalee fuhr zu ihm herum. »Wo?«
»Ich bin mir nicht sicher«, beeilte sich Nodon zu sagen. »Ich versuche nur die ganze Zeit einen Sinn hinter dem, was sie tun, zu finden. Vor einer Weile habe ich gehört, wie sie über Bidayns Haut sprachen. Über die Narben. Lyvianne hat versprochen, ihr zu helfen …«
»Und?«
»Die Seidene«, stieß Gonvalon hervor. Ihm war schon am Tag ihrer Ankunft in der Goldenen Stadt aufgefallen, wie sehr Bidayn die Schönheit ihrer Gastgeberin bewundert hatte.
»Das werden sie doch nicht tun …«, sagte Nandalee. »Wir waren ihre Gäste. Sie hat uns geholfen …« Die junge Elfe schüttelte den Kopf. »Es muss einen anderen Grund geben!«
Gonvalon konnte sich sehr wohl vorstellen, dass Lyvianne ihre Gastgeberin ermorden würde. Für sie zählte ein Menschenleben nichts. Er legte seine Hand auf Nandalees Arm.
Sie sah ihn an, voller Verzweiflung »Gehen wir zum Haus der Seidenen«, entschied sie dann. »Eine andere Fährte haben wir ohnehin nicht.«
Keiner widersprach. Nandalee führte sie durch verwinkelte Gassen und über Straßen, die Gonvalon nie zuvor betreten hatte. Er wunderte sich, wie gut sie diese riesige Stadt zu kennen schien. Schneller, als er erwartet hätte, erreichten sie das Haus mit dem roten Tor. Im Gegensatz zu sonst stand es leicht angelehnt.
»Lyvianne?«, rief Nandalee über die Straße hinweg.
Sie erhielten keine Antwort. Nodon zog sein Schwert. »Ich rieche Blut«, sagte er leise.
Gonvalon roch nur den Duft von gebratenem Fleisch und Gemüse. Die Mittagsstunde war nicht fern. In einem der Häuser würde es bald ein üppiges Mahl geben. Er sah Nodons Anspannung und entschied sich, den scharfen Sinnen des erfahrenen Schwertkämpfers zu vertrauen. Er legte die Hand auf den Griff seiner Waffe.
»Gehen wir hinein«, entschied Nandalee, nahm den Bogen von der Schulter und zog die Sehne auf.
Gonvalon war als Erster beim Tor. Er rammte es mit der Schulter auf. Hinter ihm stand Nandalee und sicherte ihn mit einem Pfeil auf der Sehne.
Im Durchgang des Torhauses kauerte ein alter Mann, der erschrocken die Arme hochriss. »Tut mir nichts! Bitte, tut mir nichts! Ich hab damit nichts zu tun. Ich …« Als er erkannte, wer sie waren, warf er sich zu Boden und verbarg mit den Händen schützend seinen Kopf.