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Nandalee trat zur Seite und sicherte mit halb gespanntem Bogen den Innenhof. Ihr Blick wanderte über die umlaufende Galerie, an der die Türen zur ersten Etage lagen. Der Hof war wie ausgestoben. Nur in seiner Mitte lag lang hingestreckt eine rote Gestalt.

Gonvalon brauchte einen Herzschlag, um zu begreifen, was er da sah, so fremd war es ihm: Vor ihm lag eine gehäutete Frau! Ihr ganzer Leib war nacktes, rotes Fleisch, überzogen von einem Netzwerk von Adern.

»Bei den Alben«, stammelte Eleborn neben ihm. »Sie lebt noch!«

Jetzt sah auch Gonvalon, wie sich die Lippen der Frau bewegten. Ihre großen, grünen, lidlosen Augen waren auf ihn gerichtet. Er konnte nicht verstehen, was sie sagte, las nur die Qual in ihren Augen. Er war fassungslos, dass Lyvianne und Bidayn das hatten tun können.

Nodon, der zu ihnen aufgeschlossen hatte, hob etwas mit der Spitze seines Schwertes hoch. Es war durchscheinend, wie Pergament. Ein Rautenmuster war darauf zu erkennen. »Auch Bidayn hat sich gehäutet.«

Gonvalon hörte Eleborn hinter sich würgen. Der Schwertmeister hatte das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Wie hatte Lyvianne nur so grausam sein können! Wie … Das Wanken des Bodens war mehr als nur ein Gefühl gewesen. Die Erde unter ihm bäumte sich auf. Ein dumpfes Geräusch stieg aus der Tiefe auf – als zerbreche etwas. Dann wurde es tausendfach variiert. Ein breiter Riss lief durch die Hauswand ihm gegenüber. Ein Teil der Galerie sackte zur Seite.

Nandalee packte ihn und zog ihn in den gewölbten Durchgang des Torhauses. Steine prasselten in den Hof. Nodon war noch immer dort. Sein Schwert beschrieb einen blitzenden Bogen. Die Haut, die er aufgespießt hatte, flog davon. Seine Klinge stach nieder und durchbohrte das Herz der Sterbenden. Ihre bebenden Lippen kamen zur Ruhe, als eine ganze Hauswand in den Hof stürzte. Staub wirbelte auf und legte sich wie eine neue Haut über ihren geschundenen Leib. Ziegelsteine rollten bis zum Durchgang des Torhauses. Doch nicht einer berührte die Tote.

Das Beben endete so unvermittelt, wie es begonnen hatte. Inmitten des Schutts lag eine zersplitterte Kleidertruhe. Ein Seidenschal in den tausend Rottönen eines Sonnenaufgangs glitt in einer Kaskade aus schillernden Farben heraus. Wie bunte Blüten, davongetragen vom Frühlingswind, flatterten die Kleider der Seidenen durch den Hof. Der Schal legte sich um den Hals der Toten und bedeckte ihre Augen, die hinauf zu einem Wolkenschiff blickten, das über den Himmel schwebte.

Im Himmel

»Seht, meine Brüder und Schwestern, wie Nangog die Stadt straft, die uns in Verdammnis schicken wollte!«, rief Barnaba, und seine Stimme war so gewaltig, dass sie auch zu dem zweiten Wolkenschiff trug, das dicht neben ihnen durch den Himmel glitt.

Der Prediger ließ den Blick über die Stadt tief unter ihnen wandern. Es war genauso, wie Nangog es ihm in seinen Visionen gezeigt hatte. Wie von unsichtbaren Hämmern getroffen, brachen die Paläste und hohen Wohnhäuser in sich zusammen. Ankertürme knickten, als seien sie nicht mehr als lange Grashalme, nach denen übermütige Burschen mit Weidenruten schlugen. Staub erhob sich in rotbraunen Wolken über der Stadt, und das Getöse dröhnte ihnen selbst hier, hoch am Himmel, in den Ohren.

»Halt dein Maul, Prediger, oder ich lass dich deine Zähne fressen!«, fuhr ihn der Hauptmann der Wachen an, die als ihre Kerkermeister mit an Bord gegangen waren. Er war ein großer, gedrungener Kerl, dessen Hals so kurz war, dass es schien, als würde sein Kopf direkt aus dem Rumpf wachsen. Ein kurzer, eckiger Bart betonte das breite Kinn, sein Schädel war kahlgeschoren. Man musste ihn nur ansehen, um zu wissen, dass er ein grausamer Mann war, dachte Barnaba, aber selbst er sollte Gelegenheit haben, errettet zu werden.

Der Priester hob dem Hauptmann seine Hände entgegen, um die dünne Hanfseile so fest geschlungen waren, dass sie Barnaba tief ins Fleisch schnitten. »Befreie mich, und du kannst einer von uns werden, erleuchtet von der Weisheit der Großen Göttin und stets von ihr beschützt. Sieh hinab, Krieger! Sieh, wie deine Welt zerbricht! Folge mir zu neuen Ufern! Erkenne …«

Der Krieger zog sein Schwert, eine lange, mörderisch spitz zulaufende Bronzeklinge, wirbelte sie herum und versetzte Barnaba mit der flachen Seite einen Schlag auf den Rippenbogen, direkt unter dem Herzen.

Barnaba traten Tränen in die Augen, als ihm pfeifend die Luft aus den Lungen floh. Er brach in die Knie und verfluchte stumm sein Fleisch, das so schwach war. Ein erschrockenes Raunen ging durch die Menge seiner Gläubigen. Sie wollten ihm helfen, doch nun zogen auch andere Krieger aus ihrer Eskorte die Schwerter.

»Bitte, meine Freunde …«, stieß Barnaba schwer atmend hervor. »Mir geht es gut. Wir …«

»Dir geht es gut, Aufwiegler?« Den Worten folgte ein Tritt in Barnabas Magengrube. »Ich darf dich zwar nicht umbringen, aber Arcumenna war sehr deutlich, dass ich dir, wann immer es mir beliebt, die Scheiße aus den Därmen prügeln kann.« Der Krieger packte Barnaba an den Haaren und riss seinen Kopf hoch. »Wenn es dir gutgeht, Priester, dann bin ich meinen Pflichten nicht nachgekommen.«

Der Hauptmann deutete auf die Goldene Stadt hinab. Zehntausende Schreie klangen zu ihnen herauf. Das Getöse einstürzenden Mauerwerks war Wehklagen gewichen. Dichte Staubwolken wogten durch die Gassen und stiegen zum Himmel hinauf. Allerorten waren Brände ausgebrochen.

»Du hast davon gewusst und sie nicht gewarnt, Priester?« Ein Schwerthieb, erneut mit der flachen Seite, ging auf Barnabas Hüfte nieder. »Allein dafür sollte ich dich schon totprügeln, du Drecksack. Predigst Frieden und lässt die Menschen zu Tausenden verrecken, wo du hättest helfen können!«

»Sie wollten nicht hören …«, stieß Barnaba keuchend hervor.

Der Hauptmann ließ ihn los, nur um ihm sofort wieder einen Fausthieb in die Magengrube zu verpassen, der ihn in sich zusammenklappen ließ. Zitternd lag er an Deck und würgte. Er wünschte, er wäre tot.

Über ihm wanden sich die Tentakel des Wolkensammlers, der das Gefangenenschiff trug. Ein abstoßendes Gewimmel schleimtriefender Fangarme. Barnaba atmete schwer aus. Galle stieg ihm in den Mund.

»Du solltest aufhören, ihn zu prügeln. Noch zwei oder drei Schläge, und er ist kaputt.« Es war eine starke, dunkle Stimme mit schwerem drusnischem Akzent, die da gesprochen hatte.

»Wer bist du?«, fragte der Hauptman wütend. Dabei schob er einen Fuß unter Barnabas Leib und drehte ihn auf die Seite.

Der Prediger fühlte sich, als sei er nur noch willenloses Fleisch. Er war völlig außerstande, noch Widerstand zu leisten. Jetzt konnte er seinen Fürsprecher sehen. Es war ein hünenhafter Krieger in guter Rüstung, der einen Helm mit weißem Rosshaarschweif trug. Ganz offensichtlich gehörte er nicht zum Gefolge des Hauptmanns.

Der Fremde zögerte und schien nicht antworten zu wollen.

»Na los, sag schon! Wer bist du?«, fuhr ihn der Hauptmann ärgerlich an. »Sprich, oder ich lasse dich über Bord werfen!«

Der Hüne hob beschwichtigend eine Hand, klang aber keineswegs eingeschüchtert, als er antwortete: »Ich bin nur ein Söldner mit ein wenig Erfahrung darin, Leute totzuprügeln. Und ich sage dir, dein Prediger da unten verträgt nicht mehr viel. Noch zwei oder drei Schläge und er ist hinüber.«

»Und ich sage dir, ich kann dieses Schwein noch eine ganze Weile quieken lassen, bevor es sich verabschiedet.« Mit diesen Worten setzte der Hauptmann die genagelte Sohle seiner Sandalen auf Barnabas Rechte und begann langsam, den Druck zu erhöhen. »Und du nimmst jetzt deinen Helm ab. Ich will dein Gesicht sehen.«

Der Hüne lachte. »Die meisten sind froh, wenn sie es nicht sehen.« Mit diesen Worten hob er den Helm und zeigte ein grässliches, von fleischigen Narben entstelltes Antlitz. Seine Nase war nur eine unförmige Masse, eines seiner Ohren ein merkwürdig amorpher Klumpen. Er besaß keine Augenbrauen mehr. Sein Schädel war ebenfalls kahlgeschoren. »Man nennt mich Kolja«, sagte er und lächelte dabei, was sein Antlitz noch erschreckender aussehen ließ. »Ich wollte mich nicht einmischen, Hauptmann. Wie gesagt, ich habe einige Erfahrung darin, Leute totzuschlagen. Ich war einmal Faustkämpfer. Und ich sage dir, dein Priester da ist bald hinüber. Solltest du ihn nicht lebend abliefern?«