»Ich sagte doch, ich lass ihn noch ein wenig quieken.« Bei diesen Worten verstärkte der Hauptmann den Druck seines Fußes. Barnaba hörte die Knochen seiner Hand knacken und stöhnte laut auf.
»Helft dem Klugscheißer zurück in die Goldene Stadt!« Der Befehlshaber bedeutete seinen Männern, Kolja zu ergreifen. »Lasst ihn auf dem kurzen Weg reisen.«
Der Hüne zog ein prächtiges, silbern schimmerndes Schwert. Er wirkte nicht im Geringsten beunruhigt. Barnaba wünschte sich, er wäre ebenso kaltblütig.
Der Hauptmann hob ebenfalls sein Schwert und sah zu den Gläubigen. »Seht ihr die Hand eures Priesters? Ihr redet so viel von Frieden und Harmonie. Aber wer von euch hat auch nur eine Hand erhoben, um das Unglück der Goldenen Stadt zu verhindern? Ich verachte euch. Für mich seid ihr nichts als Heuchler!« Er funkelte nun Barnaba wütend an. »Deine Hand sollte dort unten sein, wo jetzt jede Hilfe gebraucht wird. Ich finde, das schuldest du der Stadt.«
Barnaba war unfähig zu sprechen oder sich auch nur zu bewegen. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würden ihm glühende Dolche in die Brust getrieben. Er sah das hoch erhobene Schwert, das gleich seine rechte Hand abtrennen würde, aber er war jenseits von Angst. Ein wenig war es, als sähe er einem Fremden zu. Es berührte ihn nicht mehr. Er hatte zu viel erlitten.
Das Schwert sauste nieder, aber der Schmerz blieb aus. Eine kraftvolle, fremde Stimme füllte Barnabas Verstand. Nicht die Göttin … Das Schwert des Hauptmanns war dicht neben Barnabas Hand in die Planken des Oberdecks gefahren. Der Hauptmann gab seltsame, glucksende Geräusche von sich und begann zu schweben.
Barnaba blinzelte, traute im ersten Moment seinen Augen nicht. Sein Folterer wurde in die Luft gehoben. Aus seiner Brust ragte ein langer Dorn. Ein Tentakel mit einer Knochenspitze hatte ihn durchbohrt.
Ich werde dich beschützen, Barnaba, war da wieder die Stimme in seinem Kopf. Ich bin Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer, der Wolkensammler, der dieses Schiff trägt. All deine Qualen werden ein Ende haben.
Die Wachen des Hauptmanns hatten von dem hässlichen Hünen abgelassen, und sahen stattdessen schockiert zu ihrem schwebenden Anführer.
Plötzlich schlangen sich Fangarme um Barnaba. Auch er wurde emporgehoben. Seine Anhänger riefen aufgeregt durcheinander. Einige der mutigeren, wie der Flötenspieler Artiknos und Merob, die Erste Mutter, drängten an den Wachen vorbei und versuchten, seine Hände zu ergreifen. Doch er wurde zu schnell in die Höhe gehoben.
Der Schleim, der von den Tentakeln des Wolkensammlers troff, war angenehm kühl und betäubte den Schmerz in seinen Wunden. Auch konnte er etwas besser atmen. »Werft eure Waffen weg«, befahl er den Kriegern mit zittriger Stimme. »Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer duldet keine weitere Gewalt gegen meine Gefolgschaft.«
Wie um seine Worte zu unterstreichen, schwenkte der Tentakel, von dem der immer noch zuckende Hauptmann hing, weit über die Reling hinaus und ließ den Sterbenden von der Knochenklinge gleiten, sodass er in die Tiefe stürzte.
Barnaba blickte zu dem Lotsen des Wolkenschiffes, einem drahtigen, kleinen Mann, der ihn ein wenig an eine Spinne erinnerte. »Wir werden einen südwestlichen Kurs fliegen. Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer und sein Bruder kennen den Kurs. Folge ihren Anweisungen.«
Zu sprechen hatte ihn mehr erschöpft, als er erwartet hatte. Sein Kopf sank ihm auf die Brust. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, Ekel vor der Umarmung der Tentakel zu empfinden. Sie hielten ihn fest umschlungen und hoben ihn langsam dem aufgedunsenen Leib des Wolkensammlers entgegen.
Im Wald aus wogenden Fangarmen öffnete sich ein breiter Spalt im Fleisch der Kreatur. Ein Maul? Gallert troff auf Barnaba herab und rann in warmen, zähen Schlieren über sein Gesicht. Inmitten des Mauls sah er ein blassweißes Licht, und dieser Anblick erfüllte ihn mit tiefem Frieden. Mit der Gewissheit des Sterbenden wusste er, dass dort seine Xana Ikuška auf ihn warten würde.
Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, als er im Leib des Wolkensammlers verschwand.
In fremder Haut
Hustend kroch Bidayn unter dem halb verschütteten Torbogen hervor. Voller Sorge betrachtete sie die Schürfwunden auf ihren Armen. Nach dem Getöse der einstürzenden Bauten war es nun geradezu still. Nur leises Wimmern war zu hören. Irgendwo in der Nähe steigerte sich ein Hund in immer schrilleres Gekläff. Die Luft war so voller rotem Ziegelstaub, als hinge dichter Nebel in den Straßen. Das, was von den Straßen übrig geblieben war …
Dort, wo eben noch eine fünfzehn Schritt breite, sanft ansteigende Treppe gewesen war, die zur nächsten Terrasse der Stadt führte, erstreckte sich nun eine Geröllhalde. Rote Ziegelsteine und Fragmente aus Marmorverblendungen hatten die Treppe völlig verschwinden lassen. Dazwischen ragten Mauerstücke auf, die, obwohl sie auf die Straße gestürzt waren, noch einen Verband aus Ziegeln bildeten. Säulenkapitelle und ein einzelner Kopf aus grauem Stein erhoben sich aus dem Schutt.
Der Staub kratzte in Bidayns Hals. Ihr Mund war trocken. Lyvianne stand vor ihr, eine Gestalt aus Staub. Ihre Augen wirkten unnatürlich groß in der roten Maske, zu der ihr Gesicht geworden war.
»Wir haben Glück gehabt«, sagte sie mit rauer Stimme. Dann sah sie Bidayn zweifelnd an. »Geht es dir gut?«
Bidayn hob ihre Arme. Das Blut der Schürfwunden hatte mit dem Staub einen zähen Brei gebildet.
»Du musst dir keine Sorgen machen. Das ist jetzt deine Haut. Sie wird verheilen, und es werden keine neuen Narben bleiben. Komm jetzt, es ist nicht mehr weit bis zur Goldenen Pforte.«
Bidayn sah sich um. Sie hatte jegliche Orientierung verloren. Nichts sah mehr aus wie vor wenigen Augenblicken. Sie dachte an die Menschen, die eben noch auf der Straße gewesen waren. Ein Stück voraus ragten schräg die Pfosten einer goldbeschlagenen Sänfte aus dem Geröll. Von den Trägern war nichts zu sehen. Sie folgte Lyvianne, die sich entschlossen den Hang aus Trümmern hinaufkämpfte. Jeden Schritt galt es mit Bedacht zu setzen. Nichts war mehr festgefügt in dieser Welt. Auch im Geröllhang war noch Bewegung, Steine sackten nach. Hinter ihnen stürzte eine ganze Hauswand auf die Straße, und eine neue Wolke aus Staub kroch den Hang hinauf.
Bidayn trat auf etwas Weiches. Sie blickte hinab und sah eine zierliche Hand mit Silberringen zwischen den Ziegelsteinen. Sie regte sich nicht. Die weiße Haut erinnerte die Elfe an das, was sie vor dem Beben getan hatte. Es war ihre Entscheidung gewesen. Lyvianne hatte ihr nur die Möglichkeit angeboten. Hätte sie der Meisterin nicht zugestimmt, wäre nichts geschehen. Bidayn strich vorsichtig über ihre nackten Arme. Es gab keine Narben mehr! Mit Schrecken dachte sie an das, was geschehen war. Daran, wie sie das Wort der Macht gesprochen hatte, das sie mit der Menschentochter verband. Sie hatten nackt nebeneinandergelegen, die Hände ineinander verschränkt. Und dann hatte die Haut begonnen, sich zu bewegen … in Wellen, als sei irgendetwas darunter. Sie war zum Leben erwacht, war über ihre Finger gekrochen, während sie die Menschentochter verließ. Gleichzeitig hatte sie selbst begonnen, sich zu häuten, wie eine Schlange, nur dass dort, wo ihre Haut gewichen war, für endlose, peinigende Augenblicke nur rohes Fleisch geblieben war, bis die Menschenhaut darüberkroch und anwuchs. Die Menschentochter aber hatten sie nackt, als Jammergestalt aus rohem Fleisch zurückgelassen. Noch lebend, doch zum Tode verdammt.
Die neue Haut hatte sich ganz und gar ihrem Körper angepasst. Bidayn fühlte keinen Unterschied zu früher, obwohl Lyvianne sie gewarnt hatte. Möglicherweise würde die Haut der Menschentochter in einigen Jahren zu altern beginnen. Sicher war das allerdings nicht. Und selbst wenn es nach einer Weile dieses Problem gäbe, sie würde es noch einmal tun. Menschenkinder gab es ja mehr als genug, und sie wusste nun, wie dieser Zauber zu weben war. Wieder strich sie sich über die Arme. Es war gut, nicht mehr gebrandmarkt zu sein! Sie würde keine mitleidigen Blicke mehr für ihre Narben ernten. Sie würde sich endlich Männern zeigen können. Sie hatte Sehnsucht danach, in starken Armen zu liegen, fremden Atem auf ihrer Haut zu spüren und Begehren in den Blicken zu lesen, die ihren nackten Körper betrachteten. Endlich würde sie wieder ganz sein! Was Nangog ihr genommen hatte, hatte sie sich auch auf Nangog zurückgeholt. Es war ihr gutes Recht gewesen, das zu tun!