Zuerst hörten sie das Geschrei. Es klang anders als das Wimmern der Verletzten und Wehklagen jener, die inmitten der Trümmer verzweifelt nach Überlebenden suchten. Panik lag in diesen Schreien und die Gier, um jeden Preis zu überleben, koste es, was es wolle. Und dann standen sie am Rand des großen Platzes vor der Goldenen Pforte. Ein gestürzter Ankerturm hatte einen Wall aus Schutt quer über die weite Fläche gelegt. Von den Lagerhäusern, die ihn einst umgeben hatten, reichten Zungen aus Ziegelstein und gesplitterten Balken über das Pflaster. Plünderer wühlten zwischen den Ruinen nach Schätzen, entschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen und unerwartet als reiche Männer heimzukehren.
Unübersehbare Menschenmengen drängten dem magischen Tor entgegen. Erbarmungslos schlugen sie einander nieder, krochen über die Gestürzten hinweg, schrien und meuchelten, um zum Tor zu gelangen, denn sie alle hatten begriffen, Sicherheit gab es allein jenseits der Goldenen Pfade.
In dem Augenblick, als Bidayn die Menge sah, wusste sie, dass sie und Lyvianne niemals mit heiler Haut auf die andere Seite des Platzes kommen würden. Selbst wenn sie bereit wären, Gewalt anzuwenden. Es waren zu viele Menschenkinder dort, und ständig drängten neue aus den Trümmern der Stadt nach. Was sie sah, war ein Mahlstrom aus Fleisch, und er verschlang mehr Leiber, als er ausspie.
»Du musst es wieder tun«, sagte Lyvianne.
Bidayn verstand nicht, was ihre Meisterin meinte.
»Damals, als du dir deine Narben geholt hast, hast du den Lauf der Zeit für dich verändert. Du hast dich so schnell bewegt, dass alle um dich herum wie erstarrt gewirkt haben. Du hast mir davon erzählt. Das musst du wieder tun, sonst werden wir dieser Stadt nicht entkommen.«
Bidayn schüttelte entschieden den Kopf. Das war genau jener Zauber gewesen, für den sie mit ihren Narben bezahlt hatte. Das magische Netz, das sie zu stark manipuliert hatte, hatte sich gegen sie gewandt. Wenn sie diesen Fehler ein zweites Mal beging, wäre alles vergeblich gewesen. Sie wollte diesen Schmerz nicht noch einmal fühlen, nicht noch einmal zur Aussätzigen werden.
»Ich kann das nicht …«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich …«
»Wir werden sterben, wenn wir nicht schnell flüchten«, drängte Lyvianne. »Die Devanthar werden kommen, um zu sehen, was hier geschehen ist. Sie werden sehr schnell begreifen, dass Nangog Hilfe hatte. Was, glaubst du, werden sie mit uns tun?« Lyvianne strich über den Griff des Schwertes an ihrer Seite. »Ich werde mir lieber selbst die Kehle durchschneiden, als mich lebend von den Devanthar fangen zu lassen. Noch lieber würde ich allerdings entkommen. Zeig mir, was zu tun ist!«
Bidayn zögerte. Dann dachte sie an den unheimlichen Ebermann. Lyvianne hatte recht, ihnen blieb keine Wahl. Aber sie würde den einen Zauber, in dem sie ihrer Meisterin voraus war, nicht verraten. Sie schloss die Augen und griff nach dem Netz der Kraftlinien, das alles durchdrang. Deutlich spürte sie die Pfade, die zum Albenstern hinführten. Starke, pulsierende Linien, die sich von der Matrix Nangogs deutlich abhoben. Das Goldene Netz war dieser Welt aufgezwungen worden, es war kein natürlicher Bestandteil von ihr.
Bidayn öffnete ihr Verborgenes Auge und studierte das Netz aus Kraftlinien, das sie umgab. Hell flackerten die Auren der Menschen in den Farben von Zorn und Angst. Sie griff nach der Magie der fremden Welt und unterwarf sie ihrem Willen, formte den Strom der Kräfte, bis die Bewegungen der Menschenkinder immer langsamer wurden und schließlich ganz erstarrten. Bidayn wusste, dass dies eine Täuschung war. Ihre Wahrnehmung hatte sich verändert. Nichts um sie wurde langsamer. Sie war schneller geworden – so viel schneller, als würde die Welt um sie herum stillstehen. Sie spürte, wie das magische Netz sich dagegen aufbäumte, in widernatürliche Bahnen gezwungen zu werden. Diesmal war sie vorbereitet. Sie nahm auch von der Kraft der Albenpfade, die sich in der Goldenen Pforte kreuzten. Daraus wob sie ein Netz, das sie und Lyvianne umgab und sie unberührbar für die Kräfte Nangogs machte.
Sie öffnete die Augen. Lyvianne stand vor ihr wie aus Stein gemeißelt. Bidayn hob ihre Meisterin auf und legte sie sich über die Schulter. Die Elfe war starr, keiner ihrer Muskeln bewegte sich. Geschickt schlängelte sich Bidayn zwischen den fliehenden Menschen hindurch, die inmitten ihrer Bewegung erstarrt waren. Es war eine stille Welt, aus der alle Geräusche außer dem ihres Atems verschwunden waren. Es war, als sei sie in ein Bild hineingestiegen. All die gemalten Figuren waren dazu verdammt, in ihrer Pose zu verharren. Nur sie konnte sich bewegen.
Bald war das Gedränge zu groß, um noch voranzukommen. Sie stieg auf das eingeknickte Vorderbein eines strauchelnden Kamels, schob Lyvianne vor sich hoch zum Lastsattel, von dem Säcke mit Reis hingen. Als sie hinaufgesprungen war, schulterte sie ihre Meisterin erneut und schritt von dort über die Köpfe und Schultern der Menge hinweg. Fest wie Statuen standen die Menschenkinder, sodass sie ihre Tritte sicher setzen konnte, ohne ein einziges Mal zu schwanken.
Sie spürte, wie das magische Netz der fremden Welt gegen sie aufbegehrte, sich enger zusammenzog und sie vernichten wollte, doch ihr Bannzauber bewahrte sie diesmal vor Schaden. Bidayn lachte hell auf. So gut hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit sie bei ihrer ersten Reise nach Nangog aus der Kristallhöhle ausgebrochen war und die Menschenkinder entwaffnete, die sie dort belagert hatten. All ihre Selbstzweifel waren von ihr abgefallen.
Plötzlich nahm sie eine Bewegung wahr. Das war doch nicht möglich! Wer außer ihr …? Der silberne Löwe der Devanthar schwang sich auf die Menschenleiber und sprang ihr in weiten Sätzen entgegen. Die Köpfe, über die er hinwegschritt, platzten unter seinem Gewicht wie Eierschalen. Er bewegte sich ein wenig langsamer als sie, aber ohne Zweifel beherrschte auch er ihren Zauber. Nun riss er sein Maul auf und zeigte ihr seine dolchlangen Zähne. Blut spritzte in seine silberne Mähne, als er ihr entgegeneilte und fast mit jedem Schritt ein Leben auslöschte.
Bidayn wurde sich schlagartig bewusst, dass sie ganz und gar auf sich allein gestellt war. Niemand würde ihr helfen können, ja, es gab nicht einmal jemanden, der sah, was geschah. Seit sie den Zauber gewoben hatte, war weniger Zeit vergangen, als ein Stein brauchte, um von ihrer Hand zu Boden zu fallen. Die Menschenkinder würden einfach nur zwei tote Daimoninnen am Ende einer Schneise des Gemetzels finden. Und keiner hätte gesehen, wie der Tod mitten unter ihnen Einzug gehalten hatte. Und was noch schlimmer war: Sie hätte Lyvianne ermordet! Ihr unbedachtes Handeln würde ihre Meisterin nun das Leben kosten.
Bidayn stieß Lyvianne von der Schulter und zog ihr Schwert. Zugleich konzentrierte sie sich darauf, die Zeit noch weiter zu verlangsamen. Das magische Netz Nangogs begehrte immer stärker gegen ihren widernatürlichen Zauber auf. Es war ein Gefühl, als befände sie sich im Inneren einer Nussschale, auf die stetig größerer Druck ausgeübt wurde. Wie lange würde ihr Bann noch bestehen?
Sie wurde schneller, aber der Silberlöwe zog mit! Nur noch ein Augenblick, dann hätte er sie erreicht … Sie riss das Schwert hoch, vermochte mit knapper Not den ersten Tatzenhieb abzublocken, wurde aber von der Wucht des Angriffs zurückgeschleudert. Eilig setzte der Löwe ihr nach. Bidayn kämpfte gegen die aufkeimende Panik an, rappelte sich auf und floh vor dem Löwen. Jetzt war sie wieder ein wenig schneller. Der Abstand vergrößerte sich, doch blieb er stets zwischen ihr und der Goldenen Pforte, um ihr den Fluchtweg abzuschneiden. Sie begriff, dass sie sich ihm stellen musste.