Neben ihrer Sänfte lagen zwei Männer ihrer Eskorte. Horatius schien noch zu leben, jedenfalls hob und senkte sich seine Brust. Die anderen Wächter waren verschwunden. Hinter der Sänfte lag das Kapitell einer Säule. Es hatte die Sänfte angehoben. Zarah sah Arme unter dem Kapitell aus den Trümmern ragen und wandte sich hastig ab. Die anderen beiden Sänftenträger schienen geflohen zu sein.
Sie stand inmitten eines Trümmerfeldes, aus dem sich einzelne Häuserwände erhoben. Dazwischen wogte roter Staub. Vereinzelte Schreie drangen aus dem Geröll, Wimmern und Klagelaute. Eine alte, brüchige Stimme bettelte um Wasser, aber Zarah konnte nicht ausmachen, von wo sie kam.
Langsam begriff sie, was die Katastrophe für sie bedeutete. Sie konnte Arcumenna entkommen! Sie konnte allem entkommen und ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Sie hatte ein neues Leben geschenkt bekommen. Mit widerstreitenden Gefühlen sah sie auf Horatius hinab. Sie sollte einen Stein nehmen und ihm den Schädel einschlagen. Der Hauptmann war so pflichtversessen, dass er nach ihr suchen würde, wenn er nicht ihren Leichnam in der Sänfte fand. Er würde nicht wie die überlebenden Träger und Wachen einfach davonlaufen.
Zarah hob einen schweren Ziegelstein hoch und kauerte sich neben den Krieger. Ein paar Schläge, und sie würde nie mehr über Horatius nachdenken müssen. Inmitten dieser Katastrophe würde sich niemand über einen Toten mehr zwischen den Ziegelsteinen Gedanken machen.
Sie ließ den Ziegel fallen. Sie wollte ihr neues Leben nicht mit einem Mord beginnen. Leise betete sie zur Großen Mutter, sie in Zukunft vor Männern wie Horatius zu beschützen. Dann nahm sie sich einen gesplitterten Speer als Krückstock und hinkte davon. Es fiel ihr schwer, sich zu orientieren, so sehr hatte sich alles verändert. Jedes dritte Haus war in sich zusammengesunken, die Straßen unter Schutt verschwunden und der Rauch unzähliger Brände zog den Hang hinab.
Hoffentlich war ihr Heim nicht ebenfalls völlig verwüstet. Sie hatte einige Edelsteine und etliche Goldmünzen in dem Keller versteckt, in dem sie ihre Weinamphoren lagerte. Genug, um nie mehr in ihrem Leben Armut leiden zu müssen, ganz gleich, wohin sie ging.
Zarah sah zum Himmel hinauf, der hinter Staubwolken und Rauchschleiern seltsam entrückt wirkte. Sie würde sich einen Platz auf einem Wolkensammler suchen. Sie wusste, wohin sie wollte und wo sie für immer in Sicherheit sein würde.
Goldene Kaskaden
Endlich war der Boden unter Nandalees Füßen zur Ruhe gekommen und bäumte sich nicht mehr gegen die Stadt auf, die gegen den Willen Nangogs an den Hängen des Weltenmunds entstanden war und deren Abwässer den Großen Fluss in eine Kloake verwandelten. Fest drückte sie die Hand Gonvalons, der an ihrer Seite kauerte. Ihn neben sich zu haben hatte ihr gegen jede Vernunft die Gewissheit gegeben, die Katastrophe zu überleben. Selbst als der Ziegelstaub der einstürzenden Häuser sie in dem engen Gewölbe des Torhauses fast erstickt hätte, hatte er eine solche Zuversicht und Gelassenheit behalten, dass auch Nandalee ihre Angst überwinden konnte.
Sanft zog er ihr das staubverklebte Tuch vom Mund und küsste sie, ohne sich darum zu scheren, was Eleborn und Nodon von ihnen dachten. Mit geschlossenen Augen genoss sie seine Zärtlichkeit und träumte davon, mit ihm auf eine lange Jagd in der Savanne jenseits des Jadegartens zu gehen. Keine Pflichten mehr zu haben, wieder eins zu werden mit der Wildnis und dem Krieg zwischen Himmelsschlangen und Devanthar zu entfliehen.
Nodons Räuspern zerstörte den Tagtraum. Noch hatte sie ihre Pflicht nicht erfüllt. Sie musste ihre Gefährten zurück nach Albenmark bringen. Lyvianne und Bidayn hatten sich entschieden, ihren eigenen Weg zu gehen. Nun ging es nur noch um Nodon, Eleborn und Gonvalon. Sie würden heimkehren, und zurück in Albenmark müsste sie vor den Himmelsschlangen Zeugnis ablegen, was geschehen war.
»Bald«, flüsterte Gonvalon und hielt sie nicht zurück, als sie sich aus seiner Umarmung löste.
Nandalee spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, als Nodon und Eleborn sie ansahen.
»Macht euch keine Hoffnungen«, sagte Gonvalon gut gelaunt hinter ihrem Rücken. »Sie küsst nur mich. Ihr werdet niemals erfahren, wie es ist, mit beiden Füßen auf dem Boden zu stehen und doch zu schweben.«
»Ich finde die Erfahrung mit dem Erdbeben ging durchaus in diese Richtung«, entgegnete Nodon trocken. »Gehen wir nun?«
Gonvalons Anspielung hatte Nandalee nur noch verlegener gemacht. Sie trat in den staubverhangenen Innenhof. Zarahs Haus schien bis auf die eine eingestürzte Wand nur wenig Schaden durch das Erdbeben genommen zu haben. Auch der Türwächter hatte zwischen ihnen im Durchgang des Torhauses überlebt, obwohl seine geistige Verfassung sichtlich gelitten hatte. Er schlotterte immer noch, sei es nun wegen des Bebens oder wegen dem, was Lyvianne und Bidayn getan hatten.
»Wir sollten nicht zur Goldenen Pforte zurückkehren«, entschied Nandalee. »Wenn die Devanthar kommen, werden sie diesen Weg nehmen. Wir sind dort nicht mehr sicher. Sie werden sehr bald ahnen, dass Elfen hier waren, und so gut wir uns auch verkleiden, wenn sie die Welt durch das Verborgene Auge betrachten, sind wir so auffällig wie Melonen, die zwischen Erbsen liegen.«
Niemand widersprach ihr, und so traten sie an das rote Holztor, das hinaus auf die Straße führte. Steine verkeilten die Pforte, aber sie ließ sich so weit öffnen, dass sie sich hinauszwängen konnten. Der Anblick verschlug Nandalee die Sprache. Sie hätte nicht erwartet, dass Nangog die Stadt derart verwüsten würde. Die Göttin hatte ihr doch versprochen, dass sie die Goldene Stadt nicht vom Hang des Weltenmundes fegen wollte. Was Nandalee nun sah, ließ sich damit kaum in Einklang bringen. Nangog hatte sie angelogen … Oder vielleicht war es auch einfach nur so, dass die Vorstellungen eines einfachen Albenkindes und einer Schöpfergöttin nicht übereinstimmen konnten. Wenn das hier ein leichtes Beben war, was würde die Menschenkinder erwarten, wenn Nangog ihrem Zorn freien Lauf ließ?
Schweigend suchten sie sich ihren Weg zwischen Schutthalden und Häuserruinen, immer bergab. Nandalee hatte das Gefühl, dass die Viertel der Reichen und die Tempelbauten schwerer getroffen worden waren, denn als sie zu den Schilf- und Holzhütten nahe am Fluss gelangten, sahen sie weniger Verwüstungen. Feuer waren hier ebenfalls ausgebrochen, doch es sah aus, als könnten die Menschenkinder das Unglück, das über sie gekommen war, beherrschen.
Wieder bockte die Erde unter ihren Füßen auf. Die Menschenkinder, die eben noch mit Ledereimern gegen das Feuer gekämpft hatten, ließen von den Flammen ab und suchten die Sicherheit der breiten Straßen und Marktplätze. Einzelne Prediger hatten Menschentrauben um sich versammelt und riefen die Verängstigten dazu auf, ihre Götter um Hilfe anzuflehen. Gleichzeitig behaupteten sie, das Unglück sei der Lohn für die Sünden der Goldenen Stadt. Ob sie auch nur ahnten, wie nah diese Behauptung an der Wahrheit war?, fragte sich Nandalee, während sie sich an der Spitze ihrer Gefährten durch das Gedränge schob.
Mit lautem Getöse brach eine Reihe steinerner Lagerhäuser weiter oben am Hang in sich zusammen. Wasser schien aus den Fundamenten der Lager zu quellen und ergoss sich in blassgolden schillernden Kaskaden über den Rand der Terrasse oberhalb des Fischerviertels. Nandalee meinte in der Ferne Jubelrufe zu hören. Die Menge um den nächststehenden Prediger folgte nicht länger den Worten über Sünden und Verdammnis. Sie sahen auf, und plötzlich rief ein rothaariger Mann mit pockennarbigem Gesicht: »Das sind die Palmöl-Lager!« Augenblicklich zerstreute sich die Menge. Der Prediger bedachte die Menschenkinder mit wüsten Flüchen.
»Komm, lass uns weitergehen«, sagte Gonvalon sanft und zog sie mit sich.
Nandalee würde die Menschenkinder niemals verstehen. Wie konnten sie inmitten der Katastrophe in Begeisterung ausbrechen, nur weil es die Aussicht gab, Öl von den schmutzigen Gassen schöpfen zu können?