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Was Bidayn getan hatte, war nicht gegen die Regeln dieser Prüfung, aber es verstieß gegen ihren Geist. Sie würde es anders machen, entschied Nandalee. Aber wie lange musste sie wohl warten, bis die Herde an dieses Wasserloch zurückkehrte? Sie sah erneut zu den Sternen und dachte an Gonvalon. Daran, dass er erst so spät zurückgewunken hatte.

Das war ein schlechtes Omen gewesen. Ihre Pirsch auf die Pegasi würde lange dauern.

Sternauge

In der Dämmerung des neunten Tages kamen die Pegasi zum Wasserloch zurück.

Zunächst war es nur jener Hengst, der so tapfer gegen den Drachen gekämpft hatte. Er kreiste lange über der Wasserstelle, bis er schließlich nach Süden abdrehte. Nandalee hatte sich ein Tarnnetz aus geflochtenem Büffelgras gefertigt, das sie fast unsichtbar werden ließ. Reglos kauerte sie darunter verborgen, zwanzig Schritt vom Wasser entfernt, im Gras. In den Händen hielt sie ein starkes Hanfseil, in das sie eine weite Schlinge geknüpft hatte.

Sie hatte keine Ahnung, wie man einen Pegasus einfing. Jeder der Drachenelfen, den sie bisher darauf angesprochen hatte, machte ein großes Geheimnis daraus, wie er an sein Reittier gekommen war. Sie würde es so versuchen, wie man ein Wildpferd fing. Mit einem Lasso.

Angespannt wartete sie auf die Ankunft der Herde. Sie kamen aus der Sonne. Vor einem Himmel, der von dramatischem Orange über Blassrosa zu zartem Graublau überging. Jetzt kreisten vier Hengste tief über der Wasserstelle. Jener Rappe, den sie in Gedanken Sternauge getauft hatte, war der Erste, der landete. Er preschte das Ufer entlang, faltete graziös seine großen Schwingen und nahm Witterung auf. Ein helles Wiehern war das Zeichen für die anderen zu kommen. Nach und nach landete die ganze Herde. Zuletzt die Jungtiere.

Nandalee hatte die letzten Tage überlegt, wie ein Wild zu fangen war, das einfach davonfliegen konnte. Sie hatte erwogen, eines dieser seltsamen Wurfseile mit den Steinen an ihren Enden zu fertigen, die von den Jaguarmännern auf Nangog benutzt worden waren. Geschickt geworfen, war es sicherlich gut geeignet, Beute zu Fall zu bringen. Aber wie groß war die Gefahr, dass der Pegasus, den sie fangen und zähmen wollte, sich dabei verletzen würde? Es musste also das Lasso sein. Sie war den Fährten rund um die Wasserstelle gefolgt und hatte entdeckt, dass einige der Hengste mit etwas Abstand zur Herde auf Wache standen.

Nahe einem dieser Plätze hatte sie ihr Versteck eingerichtet. Sie war gewaschen und dann mit Büffeldung eingerieben, sodass ihr Körpergeruch sie nicht verraten konnte. Alles, was sie jetzt noch brauchte, war Geduld und ein wenig Glück. Sie wusste nicht, ob ihr Hengst zu ihrem Versteck kommen würde. Sie wollte keinen anderen als den Rappen mit der sternförmigen Blesse auf der Stirn. Sternauge, das sollte ihr Pegasus sein, ein stolzes, mutiges Tier, das vor keinem Feind zurückschreckte, und sei er auch noch so übermächtig.

Bald hatte sich die Herde satt getrunken. Einige der jüngeren Tiere tollten im Wasser, während die älteren grasten. Keinen Augenblick ließ die Aufmerksamkeit der Hengste nach. Sie standen auf Hügelkuppen und beobachteten das weite Grasland, achteten auf verräterische Bewegungen im Büffelgras. Zu Nandalee kam ein Roter mit langen, wulstigen Narben auf der Flanke. Auch er schien ein Drachenkämpfer zu sein.

So schön die geflügelten Pferde anzusehen waren, sie waren auch Kämpfer. Nandalee kannte zahllose Geschichten um legendäre Kämpfe und Fluchten, die in der Weißen Halle und auch schon in der Höhle des Schwebenden Meisters erzählt worden waren. Geschichten darüber, wie Pegasi ihren Elfenreitern das Leben gerettet hatten, wie wuchtige Huftritte die Schädel von Angreifern platzen ließen wie Melonen. Manchmal war das Band zwischen dem Pegasus und seinem Reiter so eng, dass das geflügelte Pferd selbst dann nicht wich, wenn sein Elf im Kampf gefallen war. Sie hielten Wache bei dem Toten, bis andere Drachenelfen kamen oder sie selbst starben.

Der rote Hengst kam Nandalee so nahe, dass sie mit ausgestreckter Hand einen seiner Vorderläufe hätte berühren können. Sie wagte kaum noch zu atmen, blickte auf die mächtigen Hufe und dachte daran, wie viel Schaden sie anzurichten vermochten.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor der Hengst den Hügel wieder verließ. Es war inzwischen dunkel geworden. In der Wasserstelle spiegelte sich das Licht der Sterne. Die ersten Pegasi flogen davon. Nandalee sank das Herz. Wie lange würde sie warten müssen, bis die Herde zurückkehrte? Wohin zogen sie weiter? Ihnen zu Fuß zu folgen war aussichtslos. Sie wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als zu warten, bis sie zurückkehrten.

Nach und nach verließen alle Tiere das Wasserloch. Zuletzt war nur noch Sternauge übrig. Er ist der Erste, der kommt, und der Letzte, der geht, dachte sie. Ein Krieger. Zum ersten Mal überlegte sie, was es für die Herde bedeuten mochte, wenn sie ihr diesen Hengst nahm.

Sternauge drehte eine letzte Runde um die Wasserstelle, dann trottete er langsam ihren Hügel hinauf. Komm näher, dachte Nandalee. Noch ein wenig! Dies war ihre einzige Gelegenheit. Sie durfte nicht zu früh aufspringen. Los, feuerte sie ihn in Gedanken an. Noch etwas! Er kam in gerader Linie auf sie zu, hielt manchmal inne, zupfte ein wenig am hohen Gras und schritt weiter. Schließlich stand er unmittelbar vor ihr. Wieder hielt Nandalee den Atem an. Ihre Hände schlossen sich fester um das Hanfseil, mit dem sie ihn fangen wollte.

Sternauge beugte sich vor und fraß vom trockenen Gras ihres Tarnnetzes. Warum weidete er nicht vom frischen Gras rings herum? Hatte er …?

Der Hengst biss ins Netz und zog es mit einer energischen Kopfbewegung zur Seite. Nandalee rollte unter seinen Hufen weg. Er hatte die ganze Zeit über gewusst, dass sie dort war!

Mit einem Satz war sie auf den Beinen. Der Rappe wich ein Stück vor ihr zurück. Er schien keine Angst zu haben – er war wachsam, aber nicht aggressiv. Sternauge hätte sie in ihrem Versteck in den Boden trampeln können, während sie darauf vertraut hatte, dass ihre Tarnung sie vor seinen Blicken verbarg. Wie hatte er sie entdeckt? Ganz bestimmt hatte er sie nicht wittern können.

Sie standen einander gegenüber, maßen sich mit Blicken. Nandalee wusste nicht, was sie tun sollte. Jetzt wäre die Gelegenheit gewesen, ihr Lasso zu nutzen. Stattdessen ließ sie es fallen. Es kam ihr schäbig vor, ihm, der neugierig zu ihr gekommen war, die Freiheit zu rauben. Als Sternauge vorsichtig mit seinen Nüstern gegen ihre Brust stieß, strich Nandalee ihm über den Hals. Sein Fell war rau und staubig. Er schnaubte leise. Nie zuvor hatte sie erlebt, dass ein Wildtier so zutraulich war. Hatte er etwa auf sie gewartet? Nein, der Gedanke war abwegig!

Sie hob ihre Hand und berührte die sternförmige Blesse auf seiner Stirn. Wenn sie doch nur in seinen Gedanken lesen könnte! Die übrigen Pegasi waren am Nachthimmel verschwunden. Er aber schien keine Eile zu haben, ihnen zu folgen.

»Wirst du mir erlauben, dich zu reiten?«, fragte sie leise.

Sternauge legte den Kopf schief und schnaubte leise. Es kam ihr fast wie eine Antwort vor. Sollte sie es wagen? Sie würde das Seil als Zaumzeug nutzen und den Sattel, den sie in ihrem Versteck verborgen hatte, zwischen seinen Schwingen auflegen müssen, um einen Halt zu haben, wenn sie auf seinem Rücken stand.

Ganz langsam bückte Nandalee sich und griff nach dem Hanfseil. Sie zog die Schlinge weit auseinander und hob sie vorsichtig an. Sternauge zuckte nicht zurück, als sie das Seil über seinen Kopf schob. Ebenso vorsichtig nahm sie den Sattel, der aus einem breiten Ledergurt bestand, dessen Sitzfläche aber verlängert und fast eben war. Auf diesem Sattel saß man nicht, Drachenelfen standen auf dem Rücken ihrer Pegasi. Mehrere aufgenähte Schlaufen gaben den Füßen in verschiedenen Standpositionen einen sicheren Halt. Die Innenseite war mit weichem Stoff gepolstert, damit der Sattel möglichst bequem für den Pegasus zu tragen war.

Es war Nandalee bewusst, dass den ungewohnten Sattel zu akzeptieren und das Festzurren des Ledergurts über sich ergehen zu lassen, für ein freies Tier die größte Überwindung war. Doch Sternauge schnaubte nur einmal leise und schlug mit seinem Vorderhuf in den staubigen Boden. Noch immer hielt er still und sah die Elfe aus klugen Augen an.