Galar wollte aufbegehren, doch er brachte nur ein Röcheln zustande. Sie durften ihn nicht mit Glamir allein lassen!
Übermut
Nandalee erwachte im ersten Morgenlicht in ihrem Lager nahe der Wasserstelle. Einen Augenblick hing sie noch der Erinnerung an die letzte Nacht nach, dem Flug auf dem Pegasus. Sie sah sich um. Der große, schwarze Hengst war verschwunden. Schlagartig hellwach setzte sie sich auf. Am Rand des Lagers sah sie noch die Hufspuren.
Sie hatte ihm vertraut! Wie hatte sie so dumm sein können? Sternauge war ein wildes Tier. Sie hatte gestern überlegt, ihm eine leichte Fußfessel anzulegen, dass er sich zum Grasen zwar bewegen konnte, es aber unmöglich war davonzulaufen oder gar zu fliegen. Sie hatte es nicht getan, weil sie es schäbig gefunden hatte. Er war freiwillig zu ihr gekommen. Er hatte sie erwählt, genauso wie sie ihn unter allen Hengsten seiner Herde auserwählt hatte.
Ein ausgelassenes Wiehern ließ sie aufblicken. Sternauge kreiste über ihr, dann stieß er in weitem Bogen hinab und landete am flachen Ufer des Wasserlochs. Nandalee schämte sich, ihm nicht getraut zu haben. Doch er trabte zu ihr zum Lager hinauf und versprühte gute Laune. Neugierig sah er ihr zu, wie sie ihre wenigen Habseligkeiten packte und in ihre Decke einrollte. Nachdem sie ihn gesattelt hatte, ging sie zuletzt zum Wasserloch hinab und füllte ihren Lederschlauch. Es würde kein langer Flug werden bis zum Jadegarten.
Sternauge ließ sich die Deckenrolle und die zusammengebundenen Waffen, ohne zu bocken, aufschnallen. Neugierig drehte er seinen Kopf nach hinten und versuchte zu sehen, was sie tat. Endlich sprang auch sie auf seinen Rücken, und nach einem kurzen Trab den Hügel hinab hoben sie ab.
Nandalee war sich ein wenig unsicher, wie sie den Hengst dazu bringen sollte, ihr Ziel anzufliegen. Sie konnte versuchen, ihn über das Seil, das sie um seinen Hals gelegt hatte, in eine bestimmte Richtung zu drängen, aber ihr widerstrebte das. Gonvalon hatte ihr einmal erzählt, dass Nachtschwinge am besten flog, wenn er ihm seinen freien Willen ließ. Vor allem im Luftkampf.
Leider hatte sie Gonvalon nicht danach gefragt, wie er es schaffte, Nachtschwinge klarzumachen, wohin der Flug gehen sollte. Gestern hatte Nandalee in ihren Gedanken ein Bild des Wasserlochs erstehen lassen und gehofft, Sternauge könne ihre Gedanken spüren. Nach einiger Zeit war er tatsächlich dorthin geflogen, aber vielleicht hatte er es auch nur deshalb getan, weil sie von dort aufgebrochen waren.
Nandalee dachte an das schroffe Felsmassiv, das sich inmitten der Wüste erhob und in seinem Herzen den Oasengarten verbarg, der ihr zur neuen Heimat geworden war.
Nach einer Weile änderte Sternauge die Flugrichtung. Er hielt nun tatsächlich auf den Jadegarten zu, der noch weit hinter dem Horizont verborgen lag. Ein Zufall? Oder wusste er, dass alle Drachenelfen dorthin flogen? Er war klug, davon war Nandalee überzeugt. Schließlich hatte er sie erwartet.
Fast zwei Stunden flogen sie in gut hundert Schritt Höhe über die weite Savanne. Nandalee sah die großen Herden ziehen, die von Horizont zu Horizont die weite Ebene füllten. Sie wanderten nach Westen, dorthin, wo es noch Wasser gab. Das Land unter ihnen wurde karger. Die Akazien, die ohnehin nur vereinzelt inmitten des Grasmeers aufragten, verschwanden ganz. Bald waren rote Termitenhügel die einzigen Erhebungen, die sie noch sah. Rotbraune Monolithen, erbaut in Jahrzehnten und unter der gleißenden Sonne des Sommers zu Festungen, hart wie aus Stein, gebrannt.
Das Gras wurde niedriger. Es hatte eine fahlgelbe Farbe. Breite Sandzungen reichten nun in die Savanne. Nur sehr selten sah Nandalee noch größere Tiere. Einen einzelnen Büffelbullen, ein hageres Wildpferd. Sie näherten sich der Todeszone, jenem sechzig Meilen weiten Streifen Wüste rings um den Jadegarten, den die Drachen mit einem Zauber belegt hatten, der sich gegen jeden wandte, der sie zu durchqueren versuchte. Nur wer fliegen konnte oder die Tore zum Goldenen Netz zu öffnen vermochte, sollte den Jadegarten erreichen. Nur ein Novize, der seine letzte Prüfung bestand und einen Pegasus fing und bändigte, konnte dorthin zurückkehren.
Bald war unter ihnen nur noch Sand, aus dem sich einzelne, bleiche Felsformationen erhoben. Es war so einfach gewesen, dachte Nandalee. Sie hatte nur auf die Rückkehr der Herde warten müssen. Das konnte nicht der Sinn der Prüfung sein. Wenn sie jetzt heimkehrte, dann hätte sie all die anderen betrogen, die so lange damit gerungen hatten, einen Pegasus zuzureiten.
Mochte Bidayn sich ihr Recht, eine Drachenelfe zu sein, mit einem Zaubertrick erschleichen, sie würde so etwas nicht tun. So vorzugehen höhlte den Status der Drachenelfen aus. Sie würde es anders machen. Versonnen betrachtete sie die tote Landschaft, die unter ihnen dahinzog. Dann öffnete sie ihr Verborgenes Auge. Das Netz der Kraftlinien war hier ungewöhnlich dicht. Aber nichts wies darauf hin, dass die natürliche Ordnung grundlegend gestört war. Die Himmelsschlangen waren Meister in der Kunst des Zauberwebens, wahrscheinlich war ihre Magie zu fein gesponnen, als dass sie hätte erkennen können, was sie hier getan hatten. Oder aber die Geschichte von der verwunschenen Wüste war eben nur dies – eine Geschichte. Nandalee lächelte. Auch das würde sie den Himmelsschlangen zutrauen, dass sie sich ganz und gar auf die Macht der Worte verließen, die manchmal einen Zauber überflüssig machen konnte.
»Lande, Sternauge!«, rief sie gegen den Wind an.
Der Pegasus gehorchte nicht. Er flog stur weiter. Nandalee zog erst kurz am Seil, doch als Sternauge auch darauf nicht reagierte, stellte sie sich vor, wie sie beide über den gelben Sand schritten.
Sternauge schüttelte wild den Kopf und geriet dabei ins Trudeln. Nandalee hatte Mühe, ihren Stand auf seinem Rücken zu halten. Schließlich landete er doch und sah sie auf eine Art an, die beredter war als alle Worte. Er fürchtete ganz offensichtlich die Wüste. Nervös blähte er seine Nüstern. Sein Kopf pendelte ruhelos. Spürte er etwas, das Nandalee nicht wahrzunehmen vermochte?
Sie nahm den Wasserschlauch von seinem Rücken. Mehr würde sie nicht brauchen. Sie schätzte, etwa einen Tagesmarsch vom Jadegarten entfernt zu sein. »Weißt du, in den Jadegarten zurückzukehren soll eine Prüfung sein. Eine herausragende Leistung. Aber was ich bisher getan habe, war alles andere als herausragend. Ich werde das letzte Stück zu Fuß gehen. Erwarte mich an der Schlucht, die in den Garten der Himmelsschlangen führt. Zur Dämmerung sollte ich dort ankommen.«
Sternauge schüttelte den Kopf. Hatte er ihre Worte verstanden? Wohl kaum. Was dachte sie nur für einen Unsinn, schalt Nandalee sich in Gedanken. Er war einfach nur nervös. Sie stellte sich das Bild der Schlucht vor. »Dort«, sagte sie leise und eindringlich, »wirst du warten.«
Der Hengst schien zu begreifen, wie ernst es ihr war. Er schnaubte ärgerlich, dann preschte er davon und stieg flügelschlagend in den Himmel hinauf. Für eine Weile drehte er noch weite Kreise über ihr, dann drehte er ab und flog dem Jadegarten entgegen.
Nandalee orientierte sich am Stand der Sonne und schritt kräftig aus. Sehr bald schon begann ihr die trockene Hitze zuzusetzen. Sie griff nach dem Wasserschlauch, ließ ihn aber wieder sinken. So rasch durfte sie nichts trinken. Bis zur Zeit der größten Hitze waren es noch mindestens zwei Stunden. Das war die erste ihrer selbstauferlegten Prüfungen: Bis Mittag sollte sie den Wasserschlauch nicht anrühren. Sie riss einen breiten Streifen vom Saum ihres fahlgrünen Jagdhemdes und wickelte ihn sich um Mund und Nase. So würden ihre Schleimhäute weniger schnell austrocknen.
Bald schon war der Stoff von ihrem Atem feucht. Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, bis sie eine Veränderung bemerkte. Der Sand unter ihren Füßen vibrierte. Er bewegte sich, obwohl nicht der geringste Lufthauch über die weite Ebene strich. Nandalee kniete nieder, um das Phänomen genauer zu betrachten. Die Sandkörner tanzten, als lägen sie auf einem Blech, gegen das von unten mit einem Trommelstock geschlagen wurde.
Nandalee öffnete ihr Verborgenes Auge. Das Muster der Kraftlinien hatte sich drastisch verändert! Sie waren kein weitmaschiges Netz mehr, sondern erinnerten an Strahlen, die alle auf einen Punkt zuliefen. Auf sie! Etwas hatte sie aufgespürt. Nandalee beschleunigte ihre Schritte, um aus dem Zentrum der Linien zu entkommen, aber selbst als sie zu laufen anfing, wollte es ihr nicht gelingen. Sie spürte, wie eine Macht sich immer mehr aufbaute, hatte aber keine Ahnung, auf welche Art sie sich gegen sie wenden würde. Sie konnte keinen Schutzzauber wirken, wenn sie nicht wusste, wie sie angegriffen wurde.