Ein Stück voraus ragte einer der knochenbleichen Felshügel aus dem Sand. Festen Boden unter den Füßen zu haben konnte nicht schaden. Sie hatte das Gefühl, dass der Sand unter jedem ihrer Schritte ein wenig mehr nachgab. Plötzlich überfiel sie die Vorstellung, dass sich unter ihr ein Strudel aus Sand bilden würde, um sie für immer zu verschlingen.
Keuchend erreichte sie das flache Felskliff, kletterte hinauf. Der Sand hatte den Stein in Jahrtausenden glatt poliert. Es gab nur wenige Griffe dort, wo der Fels unter der Einwirkung von Hitze und Kälte aufgeplatzt war. Auf der Kuppe ließ sie sich nieder und blickte über das Sandmeer. Der Jadegarten war noch nicht zu sehen. Kein Lebewesen regte sich. Nicht einmal ein Vogel war am Himmel zu sehen. Sie saß inmitten der Todeszone, nur mit einem Wasserschlauch und ihrem mörderischen Übermut. Niemandem würde es einfallen, hier nach ihr zu suchen. Es konnte Wochen dauern, einen Pegasus zu fangen. Das war nicht ungewöhnlich. Niemand würde sich also Sorgen um sie machen. Alle würden denken, dass sie irgendwo in der Savanne war, wo es ausreichend Wasser und Wild gab. Eine Weile fluchte Nandalee vor sich hin, dann siegte ihr Pragmatismus. Sie musste sich aus eigener Kraft aus dieser Lage befreien. Nandalee öffnete ihr Verborgenes Auge und betrachtete das Sandmeer. Der Lauf der Kraftlinien veränderte sich wieder. Sie fanden in ihr natürliches Muster zurück. War der Sand der Schlüssel zu dem Zauber? Wandte er die Magie des Landes gegen sie, sobald er sie spürte?
Etwa eine halbe Stunde dauerte es, bis keine Spur des Zaubers mehr zu entdecken war. Nandalee blickte zum nächsten Felskliff, das sich über den Sand erhob. Es lag etwa eine Meile entfernt und würde sie ein paar Grad in die falsche Richtung führen, fort vom Jadegarten. Sie erinnerte sich, dass es rings um die Oase nichts als Sandwüste gab. Mindestens zehn Meilen weit war dieser letzte Abschnitt, der an die Todeszone anschloss. Dort gäbe es keine rettenden Felsinseln mehr, auf die sie flüchten könnte.
Doch darüber würde sie sich Sorgen machen, wenn sie dort ankam. Vielleicht reichte der Zauber ja gar nicht bis dort? Und zunächst einmal konnte sie ja von Fels zu Fels laufen.
Nandalee betrachtete nachdenklich den Wasserschlauch. Wenn sie so oft eine Rast einlegen musste, damit sich der Sand jeweils wieder beruhigen konnte, würde sie ihr Ziel allerdings nicht mehr heute erreichen. Es wäre besser, mit dem ersten Schluck so lange wie möglich zu warten, auch wenn ihre Kehle schon völlig ausgedörrt war.
Die Kriegerin
Sie war am Ende, dachte Nandalee, und stemmte sich mit letzter Kraft gegen die Gewalt des Sturms. Sie hatte einen unsichtbaren Kokon gewoben, einen Wall aus magischen Schutzlinien, um den wütend auf sie einstürmenden Sand fernzuhalten. Doch mit jedem Schritt schwanden ihre Kräfte. Der Kokon wurde enger, und der Sand rückte näher.
Einzelne Körner durchstießen ihren Schutzwall und bohrten sich wie winzige Geschosse in Haut und Augen. Sie war halb blind und torkelte vor Schwäche. Hin und wieder begann sie zu kichern. Ein irres, freudloses Lachen, das aus der Tiefe ihrer Seele aufstieg. Sie hätte gar nicht hier sein müssen! Sie könnte jetzt in Gonvalons Armen liegen! Jetzt, im Angesicht des Todes, begriff sie, was ihre eigentliche Prüfung gewesen war. Es ging nicht wirklich um den Pegasus, sondern allein um sie. Sie hätte ihren Hochmut überwinden sollen! Hätte akzeptieren sollen, dass Dinge manchmal einfach sein können.
Stattdessen hatte sie sich diese unnötige Prüfung auferlegt. Ob jeder der Drachenelfen hier mit seinen verborgenen Schwächen konfrontiert worden war? Was mochte es bei Gonvalon gewesen sein? Keine hübsche Elfe um sich zu haben? Wieder brach sie in ihr irres Kichern aus. Sie sank auf die Knie. Warum noch kämpfen? Sie wusste nicht, wie lange sie vorwärtsgestolpert war. Mehr als einen Tag? War es Nacht geworden? Der Himmel war so finster, dass sie es nicht beurteilen konnte. Eigentlich hätte sie das letzte Stück Weg geschafft haben sollen. Aber vielleicht ging sie auch im Kreis. Der tosende Sturm nahm ihr jede Sicht, machte jede Orientierung unmöglich. Auch ihr Verborgenes Auge half ihr nicht weiter. Öffnete sie es, wurde sie von strahlendem Licht geblendet, so hell, als blicke sie in die Sonne am wolkenlosen Wüstenhimmel.
Alle Kraftlinien um sie herum leuchteten in tödlich weißem Licht. Sie waren verformt, vibrierten im Kampf darum, wieder die natürliche Ordnung herzustellen, und hatten sich in weitem Kreis um sie geschlossen. Ihre Energie machte den Sand lebendig. Jedes einzelne Sandkorn war ihr Feind und stürmte gegen sie an. Sie bewegte sich durch einen Sturm, der durch ihre bloße Anwesenheit entfesselt worden war. Die Wüste wollte sie vernichten, vorher würde das Land keinen Frieden finden.
Ihr Kokon war weiter geschrumpft. Bald würde der Sand erbarmungslos über ihre Haut schmirgeln, würde sie abtragen, ebenso wie ihr Fleisch, bis von ihr nichts bliebe als ein blank poliertes, strahlend weißes Skelett. Sie hatte solche Skelette auf ihrem Weg gesehen – Hochmut schien keine seltene Untugend unter angehenden Drachenelfen zu sein.
Nandalee kämpfte sich auf die Beine. Sie presste ihre rissigen, ausgedörrten Lippen zusammen. Zu ihrem Hochmut gehörte, dass sie bis zuletzt kämpfte. Die Niederlage war sicher, aber sie würde nicht aufgeben, solange auch nur ein Funken Kraft in ihren Gliedern steckte.
Sand peitschte scharf über ihre Hand. Der schützende Kokon brach zusammen. Nandalee bäumte sich ein letztes Mal auf. Ihre innere Kraft war fast aufgebraucht. Sie spürte, wie ihre Verbindung zum magischen Netz sich aufzulösen begann. So also fühlte sich der Rückzug vom Leben an. Sie blinzelte gegen die Krusten aus Sand und Blut, die ihre Augenwinkel verklebten, um ihre Hand zu sehen. Der Handrücken war eine einzige, offene Wunde, aufgeschürft und blutig. Aber sie fühlte kaum Schmerz. Nicht einmal dafür hatte sie noch Kraft. All ihren Willen steckte sie in ein einziges, letztes Zieclass="underline" vorwärtszutaumeln, solange es noch ging.
Der Sand rutschte unter ihren Füßen weg, ließ sie straucheln, aber immer und immer wieder zwang sie sich auf die Beine, oft nur, um einen Schritt zu tun und erneut zu straucheln. Sie verweigerte sich dem Tod.
Der gnadenlose Sand schliff über ihr Gesicht, zerrte an ihren Kleidern und versuchte, sie zurückzudrücken. Vornübergebeugt stemmte sie sich gegen die Macht der Elemente. Noch ein Schritt und noch einen …
Sie war am Ende aller Schmerzen angelangt. Der Sand peinigte sie nicht länger. Es war, als liebkose er sie, brächte Kühlung im Glutofen der Wüste.
Noch einen Schritt …
Dunkelheit umfing sie. Nicht mehr lange, und alles war vorüber.
Noch einen Schritt…
Sie strauchelte, schaffte es nicht mehr, sich aufzurichten. Ihr Haupt sank auf den Sand. Ihre Augen waren inzwischen so verklebt, dass sie sie kaum mehr öffnen konnte. Selbst einfach nur zu atmen war eine Anstrengung, die ihre Kräfte überstieg. Sie hatte sich einen letzten Schluck Wasser aufgehoben. Ihre geschwollene Zunge tastete über ihre aufgesprungenen Lippen. Sie wollte trinken, den Abschied noch ein wenig hinauszögern, aber ihre Arme verweigerten ihr den Dienst. Wie totes Holz hingen sie von ihrem Körper herab, losgekoppelt von ihrem Willen.
Willkommen, Dunkelheit!, dachte sie. Ich will dich wiederfinden, Gonvalon. Gib auf dich acht. Meine Seele wird sich erneut in Fleisch kleiden. Sie wird nach dir suchen. Du bist der Eine. Gib auf dich acht!