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Drei Schritte

Etwas Nasses fuhr über Nandalees Gesicht. Wieder und wieder. Es war unangenehm. Sie wollte etwas sagen, aber ihrer Kehle entfuhr nur ein krächzender Laut. Ihre Augenlider waren verklebt. Sie konnte sie nicht öffnen. Erst als der feuchte Lappen zweimal über ihr linkes Auge wischte, konnte sie wenigsten dieses aufschlagen.

Der Himmel war silbernes Fell.

Die Elfe blinzelte, unfähig zu begreifen, was sie sah. Wieder fuhr der Lappen über ihr Gesicht. Warm, feucht, drängend. Sie erinnerte sich, wie sie in den Sand gestürzt war und auf den Tod gewartet hatte. Wie es schien, würde sie noch länger warten müssen.

Ihre Glieder schmerzten. Sie bewegte ihre linke Hand. Ihr Körper gehorchte wieder ihrem Willen, aber viel kräftiger war sie nicht geworden. Sie war also offensichtlich noch in der Wüste. Aber wer wischte über ihr Gesicht? Ihre Sinne mussten ihr einen Streich gespielt haben.

Sie öffnete erneut ihr linkes Auge. Eine große, blassrote Zunge leckte über ihre Wange. Wieder sah sie silbernes Haar und dann ein bernsteinfarbenes Auge mit geschlitzter Pupille. Erschrocken stöhnte sie auf, wollte zurückweichen, aber ihr Leib war wie an den Boden genagelt. Sie hatte einfach keine Kraft. Über ihr stand ein Silberlöwe!

Sie hielt den Atem an, kämpfte die aufsteigende Panik nieder und zwang sich, erneut in das Auge zu blicken, das kaum eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt war. Wenn der Silberlöwe sie fressen wollte, hätte er damit sicher schon begonnen. Er würde nicht erst ihr Gesicht sauber lecken, um ihr dann die Kehle durchzubeißen.

Sie dachte an den Silberlöwen, den sie nach dem Erdbeben im Jadegarten aus der halb verschütteten Höhle gerettet hatte. War das ihr Löwe? Sie drehte den Kopf zur Seite und blickte an einem kräftigen Raubkatzenbein vorbei zum Horizont. Wüste. Die Luft tanzte in der drückenden Hitze. Silberne Schlieren zogen über den heißen Sand, gaukelten dem leichtgläubigen Betrachter kristallklare Seen vor, wo es nur Staub und Durst gab. Über den falschen Seen erhoben sich Felsen. Unmöglich zu schätzen, wie weit entfernt sie waren. Fünf Meilen oder auch zehn? Nur eins war gewiss, so schwach, wie sie war, würde sie nicht aus eigener Kraft dorthin gelangen.

Der Silberlöwe leckte über ihre aufgesprungenen Lippen. Die Feuchtigkeit zu spüren tat unendlich gut. Nandalee erinnerte sich an ihren Wasserschlauch, den letzten Schluck, den sie aufgespart hatte. Sie griff nach ihrer Hüfte. Die Hoffnung auf einen Mund voll brackigen Wassers gab ihr neue Kraft. Sie hob den Schlauch an die Lippen, drückte den Verschluss auf. Aber es war kein Wasser mehr da! Ungläubig drehte und wendete sie die Lederblase. Eine Naht war aufgeplatzt. Das Nass im trockenen Wüstensand versickert.

Sie schluchzte. Es war ein Gefühl, als würde ihr eine Scherbe durch die trockene Kehle gezogen. Verzweifelt tastete sie mit ihrer aufgedunsenen Zunge über die Lippen, die der Silberlöwe eben angefeuchtet hatte.

Die große Raubkatze sah sie aufmerksam an. Was ging in diesem Kopf vor sich, fragte sich Nandalee, und ihr Blick wanderte zur Kehle des Silberlöwen. Wenn sie dem Raubtier den Hals aufschneiden könnte … das Blut. Nandalee glaubte es fast zu schmecken, warm, metallisch. Es würde sie retten. Sie tastete nach ihrem Jagdmesser. Es war fort. Verloren, irgendwo in dem schrecklichen Sturm.

Wieder wanderte ihr Blick zur Kehle der Raubkatze. Sie glaubte die großen Adern unter dem silbernen Fell pulsieren zu sehen. Der Silberlöwe wich vor ihr zurück. Nur einen einzigen Schritt, doch damit war er schon außer Reichweite.

Der Gedanke an das Blut gab Nandalee neue Kraft. Sie stemmte sich hoch und blickte zum fernen Horizont. Versuchte erneut zu schätzen, wie weit die Berge des Jadegartens entfernt waren. Die Luftspiegelungen verzerrten die Wirklichkeit. Zehn Meilen waren es nicht, redete sich Nandalee ein und wusste doch in ihrem Innersten, dass es unmöglich war, unter diesen Bedingungen eine Strecke abzuschätzen.

Sie blickte zurück in die Wüste, die hinter ihr lag. Ein Meer aus blassgelbem Sand. Drei Fußstapfen führten zu der Stelle, an der sie lag. Dahinter gab es keine Spur. Der Sand bildete leichte Wellenlinien, wie Wasser, über das eine sanfte Brise strich. Langsam dämmerte ihr, was das, was sie sah, bedeutete. Sie war der Todeszone um drei Schritte entronnen, hatte mit ihrem letzten Aufbäumen den verwunschenen Zirkel hinter sich gelassen, den die Drachen in die Wüste gezogen hatten. Dort, gleich hinter der dritten flachen Mulde im Sand, lag die unsichtbare Grenze, an der der Zauberbann endete.

Sie war der Todesfalle der göttergleichen Himmelsschlangen entgangen! Sie durfte nicht einfach wie ein Stück Vieh in der Wüste verenden. Wieder blickte sie nach der Kehle der Raubkatze. Die Rettung war zum Greifen nah. Sie machte einen ersten schwankenden Schritt, und augenblicklich wurde ihr schwindelig. Ihr leerer Magen rebellierte, ein pochender Schmerz wütete hinter ihrer Stirn. Nandalee schloss die Augen und sammelte sich. Sie machte einen weiteren, unsicheren Schritt.

Sie tastete nach der Kruste aus geronnenem Blut und Sand, die ihr rechtes Auge verklebte. Rieb vorsichtig über die wunde Haut und machte den nächsten Schritt. Als sie die Augen öffnete, war der Silberlöwe ein Stück vor ihr zurückgewichen. Der Abstand zu ihm hatte sich um keinen Zoll verringert. Wusste er, was sie wollte? Wie könnte sie ihn ködern? Kurz überlegte sie, in die Knie zu gehen, um kleiner und weniger bedrohlich auszusehen, aber sie hatte Angst, nicht wieder auf die Beine zu kommen. Und bedrohlich sah sie für den Silberlöwen ganz gewiss nicht aus!

Was hatte ihn zu ihr geführt? Hatte er von den hohen Klippen des Jadegartens einen winzigen, unbeweglichen Punkt in der Wüste gesehen. Beute? Er war kein Aasfresser. Bestand ein Band zwischen ihnen, seit sie ihm das Leben gerettet hatte, wie es einst ein Band zwischen ihr und der kleinen Misteldrossel Piep gegeben hatte? Dem Vogel, den sie in der Weißen Halle aufgezogen hatte, über den die anderen Novizen so gespottet hatten, und der doch Gonvalon zu ihr geführt hatte, als sie verloren gewesen war.

Sie wollte nicht wissen, ob es ein Band zwischen ihnen gab. Er war ihre Beute. Sein Leben würde ihr Leben sichern, das war alles, was sie miteinander verband! Nandalee hielt den Blick fest auf ihn gerichtet und machte einen Schritt vorwärts. Er wich zurück. Sie wollte ihn ködern, ihm etwas Freundliches sagen oder wenigstens einen gurrenden Laut hervorbringen, aber ihre Kehle war zu trocken. Sie stieß ein Krächzen aus wie ein Aasvogel.

Wenn sie plötzlich loslief, dann könnte sie ihn vielleicht erwischen. Sie stellte sich vor, wie sie ihre Arme um seinen Hals schlang, ihn zur Seite riss und ihm die Kehle durchbiss. So würde sie es tun müssen. Sie hatte kein Messer, und in dieser verdammten Wüste gab es auch keine Aussicht, einen Stein oder ein Stück Holz zu finden. Hier gab es nichts außer Sand. Lange würde sie nicht durchhalten. Sie musste es schnell tun. Alles sprach gegen sie. Mit seinen Fangzähnen und Tatzen war der Silberlöwe deutlich besser für einen Kampf gewappnet. Und er war ohne Zweifel stärker und schneller. Sie musste ihn überraschen, das war ihre einzige Hoffnung. Und er durfte es nicht schaffen, sich umzudrehen, wenn sie sich am Boden wanden und sie seine Kehle umklammert hielt. Sonst würde er ihr mit seinen Hinterläufen die Eingeweide aus dem Leib reißen.

Nandalee machte ein paar Schritt nach vorne, er wich zurück. Sie fluchte innerlich, aber ihre Wut gab ihr die Kraft weiterzugehen. Könnte sie ihn durch einen Zauber überwältigen? Ein Wort der Macht, das ihn erstarren ließ, wehrlos machte? Sie versuchte erneut zu sprechen, brachte aber wieder nur ein Krächzen hervor. Sie fühlte sich wie ein altes Maultier, dem eine Möhre vor die Nüstern gehalten wurde, damit es willfährig einen Karren zog.

Sie dachte an die drei Schritte, die den Unterschied zwischen Leben und Tod ausgemacht hatten, und ging weiter. Die Sonne stieg höher. Unerbittlich brannte sie auf die Wüste und verwandelte die Luft in flüssiges Glas, das Nandalee bei jedem Atemzug die Kehle versengte. Sie schleppte sich voran, immer den Blick auf das silbrige Fell des Löwen gerichtet. Längst dachte sie gar nichts mehr, hatte alle Hoffnung aufgegeben, ging nur noch. Noch einen Schritt und noch einen, bis sie in das Loch einer Wüstenmaus trat, ihr der Fuß umknickte und sie stürzte. Schwer kam sie wieder hoch, ging weiter, bis ihr erneut die Beine wegknickten, diesmal aus Schwäche.