Die Sonne stand im Zenit. Sie verbrannte Nandalees Gesicht. Sie kroch auf den Knien weiter. Sie durfte nicht aufhören, sich zu bewegen. Jeder Schritt zählte. Erste dürre Grasbüschel ragten aus dem Sand. Vielleicht gab es ein Wasserloch. Sie sah Vogelspuren neben dem Gras. Es gab hier Leben. Sie durfte nicht aufgeben. Drei Schritt konnten den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen, ermahnte sie sich immer wieder und peitschte sich an, bis ihre Arme zitternd nachgaben, und sie auf den Bauch sackte.
Sie rutschte auf dem Bauch weiter. Kämpfte sich durch den glühend heißen Sand, bis jegliche Kraft, sich zu bewegen, verlosch. Wohin war der Silberlöwe verschwunden? Er hatte sie aufgegeben, dachte Nandalee bitter und war sich nur zu bewusst, dass sie ohne ihn erst gar nicht bis hierhergekommen wäre. Wie weit mochte sie gegangen sein? Eine Meile? Zwei?
Es spielte keine Rolle mehr. Sie war zu weit vom Jadegarten entfernt, um zufällig entdeckt zu werden. Niemand verließ die schützende Oase, um sich der gnadenlosen Glut der Wüste auszusetzen. Hier gab es nichts, das diese Strapaze lohnte.
Die linke Wange im Sand, das strähnige Haar halb vor ihr Gesicht gefallen, lag sie da, unfähig sich zu bewegen. So würde man sie finden. Ihr Blick ging über die gleißende Ebene. Etwas Dunkles bewegte sich in ihre Richtung. Sie sah es nicht ganz klar. Es kam nur langsam näher. Es verschwand in den flirrenden Luftspiegelungen, war plötzlich wieder da und verschwand erneut. Hoffnung keimte in ihr auf, bis der dunkle Punkt von einem Augenblick zum anderen Konturen gewann und dann ganz klar zu sehen war: Es war ein großer, schwarzer Käfer, der eine Kugel aus dunklem Kot rollte. Sein Hinterleib schimmerte metallisch grün, der Halsschild war schwarz. Die Fühler, die aus seinem Kopf wuchsen, verdickten sich nach vorne, sodass sie wie winzige Keulen aussahen.
Vor Nandalees innerem Auge tauchte der Mistkäfer auf, den sie vor so endlos langer Zeit in der Höhle des weißen Drachens, ihrem ersten Lehrmeister, beobachtet hatte. Wie er, statt einer Rille im Bodenmuster zu folgen, über die schmalen Seitenwände der parallel verlaufenden Furchen im Boden gestiegen war. Er hatte sich keiner vorbestimmten Bahn fügen wollen, hatte seinen eigenen Weg gemacht.
Die Elfe dachte an die Worte des Schwebenden Meisters über den Käfer: Er frisst Exkremente, wisst Ihr. Und er kommt bestens damit klar. Er sammelt sie auch für seinen Nachwuchs. Er dreht sie zu Kugeln, die ein Vielfaches seines eigenen Gewichtes betragen. Darin legen die Weibchen ihre Eier ab, und die Jungen werden in eine Welt geboren, in der sie vor lauter Exkrementen das Tageslicht nicht sehen. Ihr ganzes Leben dreht sich um Scheiße! Hört sich ein bisschen an wie Euer Leben im Moment, nicht wahr? Aber wisst Ihr, was wirklich faszinierend ist? Die Männchen rollen die Kugeln aus Mist, die von so erdrückendem Gewicht sind, mit ihren Hinterbeinen. Sie blicken dabei nach vorn in die Sonne. Sie haben das Beste aus ihrem Leben gemacht. Lernt von ihnen. Wenn Ihr den Mist in Eurem Leben schon nicht loslassen könnt, packt ihn wenigstens hinter Euch, dass er Euch nicht andauernd den Blick auf die Zukunft versperrt.
Nandalee erwog, ihren Mund zu öffnen, um den Käfer in die vermeintliche Höhle zu locken. Wie viel Feuchtigkeit enthielt ein Mistkäfer? Doch dann schob sie sich vorwärts und entschied sich, dem Käfer nichts zu tun. Einige Schritt konnte sie dem Tod noch abtrotzen, dachte sie entschlossen.
Sie war noch nicht bereit zu gehen.
Roter Durst
Nandalee trieb in einem Meer von roten Blütenblättern in aufgewühlter See. Angenehme Kühle liebkoste ihre Haut. Sie atmete Wasser. Ihre Kehle war endlich wieder feucht. Tief unter sich im Meer sah sie zwei mächtige Schlangendrachen, die vor einer riesigen Scheibe aus gehämmertem Silber eng umschlungen miteinander rangen. Liebten sie sich? Kämpften sie miteinander? Es war unmöglich, das zu sagen. Der eine war schwarz wie die Nacht, der andere so silbern wie die Scheibe, vor der sie ihr leidenschaftliches Duett aufführten.
Ein Schwanzhieb traf Nandalee und schleuderte sie davon. Ihre Kehle war sofort wieder trocken. Ihr ganzer Leib ein dumpfer Schmerz. Sie blinzelte, sah die endlose schwarze Ebene der Wüste im Mondlicht vor sich ausgebreitet. Eine unheimliche Kreatur näherte sich ihr. Ein Gazellenkopf, der ruckend auf seinen Hörnern schreitend näher kam.
Nandalee glaubte, erst zu träumen, als sie auch den Kopf des Silberlöwen erkannte. Seine Fänge waren in den Hals der Gazelle gegraben. Ihre Läufe zuckten im Sand. Er ließ das sterbende Tier neben Nandalee niederstürzen, und sie machte sich augenblicklich über die aufgerissene Kehle her, trank von dem warmen Blut, und als ihr erster Durst gestillt war, riss sie mit den Zähnen Fleischstücke aus der verendeten Gazelle.
Der Silberlöwe brach mit seinen langen Krallen den Leib des Tieres auf und begann, ebenfalls zu fressen. Immer und immer wieder grub Nandalee ihre Zähne in das Fleisch und spürte, wie der tote Leib ruckte, als der Löwe seinen Teil der Beute nahm. Mund an Mund lagen sie, als seien sie aus einem Wurf.
Als Nandalees Hunger und Durst gestillt waren, schlief sie erschöpft ein. Sie erwachte gestärkt im ersten Morgenlicht. Der Silberlöwe saß neben ihr, als wartete er auf sie. Die Jägerin fand die Kraft, sich aufzurichten. Ein schaler Geschmack lag ihr im Mund. Sie mied es, den Kadaver der Gazelle anzusehen. Sie würde vergessen, was in der vergangenen Nacht geschehen war. Sie lebte, allein das zählte.
Sie strebte den Felsen am Horizont entgegen. Bald spürte sie die Schwäche zurückkehren. Die zwei Tage in der Wüste hatten sie ausgezehrt. Sie fand nicht in den weit ausholenden, ausdauernden Schritt, mit dem sie durch die eisigen Weiten Carandamons und der Snaiwamark gestreift war.
Der Silberlöwe begleitete sie. Er blieb stets in Sichtweite, mal war er ein Stück voraus, dann ließ er sich wieder zurückfallen. Die Felsen wuchsen vor ihnen empor, und als die weiße Hitze der Mittagssonne die Wüste erneut in einen Glutofen verwandelte, erreichten sie die ersten Ausläufer der Berge. Nandalee flüchtete in den Schatten einer engen Schlucht und fand Wasser. Es war brackig, und Wasserlinsen trieben auf der Oberfläche. Dennoch trank sie. Sie musste sich beherrschen, nicht zu viel von der lauwarmen Brühe zu schlucken. Als sie ihren ersten Durst gestillt hatte, zog sie sich aus und wusch Staub und Blut von ihrem Leib.
Ihre aufgeschürfte Hand brannte. Die Wunde hatte sich entzündet. Sattgetrunken und schläfrig legte sie sich auf einen Fels und schlief erneut ein. Als sie erwachte, war es wieder Nacht. Der Silberlöwe war verschwunden. Sie wartete eine Weile, aber er kehrte nicht zu ihr zurück. Allein verließ sie die Schlucht und suchte nach der engen Klamm, die durch den Ring aus Felsen zur Oase hinführte.
Die Nacht schenkte Nandalee keine Erleichterung. Sie hatte das Gefühl, dass das Feuer der Wüste in ihr weiterbrannte. Ihre Kraft verließ sie wieder. Immer häufiger musste sie auf ihrem Weg innehalten und sich erschöpft an einen Fels lehnen. Immer länger wurden ihre Pausen. Wieder war sie stehen geblieben. Sie tastete nach ihrer Stirn, und kalter Schweiß benetzte ihre Finger. Fieber schüttelte ihren ausgemergelten Körper. Sie hörte das Rauschen von Schwingen und glaubte, Rosenduft zu riechen. War sie noch wach?
Sie kniff sich. Etwas Feuchtes drückte sich in ihr Gesicht. Ein großes, schwarzes Auge sah sie an. Verschwommen sah sie eine Blesse auf schwarzem Fell. Sternauge! Sie musste die Klamm zum Jadegarten erreicht haben. Er hatte auf sie gewartet.
Mit letzter Kraft zog sie sich auf seinen Rücken und krallte ihre Finger in die Lederschlaufen des langen Sattels. Um zu stehen, hatte sie keine Kraft. Seine Schwingen streiften ihr Gesicht, als er sich in den Sternenhimmel erhob. Nandalee dachte an die Pyramide im Herzen des Gartens. Sternauge schnaubte zum Zeichen, dass er verstanden hatte.