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Er begann, ein Bild in ihren rechten Oberschenkel zu stechen, als er sie blendete. Es war ein überraschender, neuer Schmerz. Ein Gefühl, als sei eine der Nadeln tief in ihren Kopf gedrungen, und von einem Moment auf den anderen konnte sie nicht mehr sehen. Panik überkam sie. Sie wollte fliehen, aber er drückte sie gnadenlos auf den Teppich, der inzwischen von der Farbe seiner Pinsel durchtränkt war. Sie spürte noch die Seidentücher, mit denen er Farbe abtupfte und ihr Blut, das ihr Bein hinunterlief. Immer wieder hielt er jetzt inne, um kritisch sein Bild zu prüfen.

»Was … was ist mit meinen Augen?«, fragte sie nach langem Schweigen voller Angst.

»Ihr sollt das Werk nicht sehen, bevor es vollendet ist, Dame Nandalee. Beweist mir Euer völliges Vertrauen, indem Ihr Euch mir blind ausliefert. Das Werk ist fast vollbracht, meine Dame.«

Sie hatte sich verändert. Nur ein paar Tage zuvor hätte sie gegen ihn aufbegehrt. Wie konnte er das tun! Aber jetzt war alles anders. Sie war sein. Und auch er hatte sich ihr in den vergangenen Tagen offenbart. Sie war sich fast sicher, dass er sie begehrte, nicht nur um hier und jetzt seine Lust zu befriedigen. Er respektierte sie. Sie hatte seine Einsamkeit gespürt und wie sehr er sich danach sehnte, mit ihr alles zu teilen. Aber sie würde gehen. Auch wenn er vielleicht glaubte, sie zu lieben, würden sie einander nie von gleich zu gleich begegnen.

Nandalee nahm hin, was war, ließ sich zwischen Fieberwahn und Ekstase treiben. Er arbeitete nun abwechselnd mal an ihrem rechten Bein, mal füllte er auf ihrem Rücken Flächen mit Farbe. Sie spürte seine Unrast. Etwas, worüber er nicht mit ihr reden wollte, beunruhigte ihn.

Irgendwann erwachte sie, und die leise Musik, die sie all die Tage begleitet hatte, war verstummt. Er war fort, sie spürte es ebenso, wie sie wusste, dass sie wieder würde sehen können, wenn sie die Augen aufschlug. Sie zögerte es hinaus, blieb still liegen und hoffte wider besseres Wissen, dass er noch einmal zurückkehren würde. Dass es einen Abschied gäbe, feierliche Worte, ein letztes Beisammensein.

Sie wartete lange. Doch der Dunkle kam nicht zurück. Endlich sah sie sich blinzelnd um. Sie lag inmitten der feinen Seidentücher, mit denen er bei seiner Arbeit Blut und Farbe von ihrer Haut gewischt hatte. Sie waren überall, auf dem flachen Fels, der ihre Insel fern der Welt gewesen war, im dunklen, warmen Wasser, das den Boden des Gewölbes verbarg. Das geheime Refugium des Dunklen sah aus wie ein blühender Apfelhain, der von einem wütenden Frühlingssturm heimgesucht worden war und dessen makellos weiße Pracht der Wind in den Schmutz gezerrt hatte.

Nandalee drehte den Kopf, soweit sie konnte, und versuchte, das Bild auf ihrem Rücken zu erkennen. Doch alles, was sie deutlich erkennen konnte, war eine schwarze Drachenklaue auf ihrer linken Schulter sowie das Schweifende an ihrem linken Oberarm. Dann fiel ihr Blick auf ihr rechtes Bein. Um ihren Oberschenkel wand sich der lange Schweif eines zweiten Schlangendrachen. Er reichte bis unter ihr Knie. Nandalee entfuhr ein leiser Schrei. Hatte sie zwei Drachen auf ihrem Rücken? Das hatte es, soweit sie wusste, noch nie gegeben!

Die Elfe kauerte sich zwischen die fast leeren Farbschalen, aß ein wenig kalte Hühnerbrust, die nicht mehr so unvergleichlich schmeckte wie während ihres Rausches. Was für ein Bild befand sich auf ihrem Rücken?

Sie erhob sich, sah sich ein letztes Mal um. Noch immer trieben Kerzen in Kristallschalen über das dunkle Wasser und woben Netze aus goldenem Licht auf die Decke des Gewölbes. Ohne die Gazala und vor allem ohne den Dunklen wirkte das unterirdische Versteck trostlos. Wohin mochte er gegangen sein? Nandalee bückte sich nach dem Krug mit dem köstlichen Wein, als sie zwischen den Seidentüchern etwas golden glitzern sah. Sie schob die Tücher zur Seite und fand ein weißes Kleid, geschnitten wie die langen Gewänder, die die Meister der Weißen Halle getragen hatten. Lange hielt Nandalee es nur in der Hand, strich über den feinen Leinenstoff und die goldenen Stickereien an den Säumen. Plötzlich spürte sie einen Kloß im Hals. Sie war eine Drachenelfe!

Sie wünschte, Gonvalon wäre jetzt hier, oder Ailyn, die Meisterin des waffenlosen Kampfes aus der Weißen Halle. Oder Cullayn, der schweigsame Jäger mit dem entstellten Gesicht, der mit seinem Gefährten, dem schönen Tylwyth, durch die Weite der Snaiwamark streifte. Ob die beiden in der Blauen Halle gewesen waren, als die Devanthar angegriffen hatten?

Sie musste an alle denken, die sie ein Stück auf ihrem Weg bis hierher zu diesem Hort der Geheimnisse begleitet hatten. An die Kobolde der Weißen Halle, die sie und ihre Launen gefürchtet hatten, und an Sata, jene alte Koboldin auf dem Blauen Stern, dem Himmelsschiff, das jenem Alben gehörte, den alle nur den Sänger nannten. Sata hatte sich auf raue, aber herzliche Art ihrer angenommen, als sie halb erfroren auf das schwebende Schiff des Alben gekommen war.

Auch dachte sie an Eleborn, der nach ihrer Rückkehr von Nangog den Jadegarten verlassen hatte, um seine Familie in Arkadien zu besuchen und dort um seinen verlorenen Meister, den Himmlischen, zu trauern. Gewiss hätte er sie mit einer seiner wunderbaren Skulpturen aus Wasser und Licht beschenkt, wenn er jetzt hier wäre. Ganz in melancholische Gedanken versunken, legte Nandalee das Kleid an.

Es war ihr auf den Leib geschnitten. Wer es wohl genäht hatte? Die Gazala? Sie schloss die Haken über ihrer Brust und am steifen Stehkragen, der ihr fast bis zum Kinn reichte. Dann schlang sie plötzlich die Arme um ihren Leib. Hielt sich fest, wollte sich spüren und war sich doch nur allzu bewusst, dass etwas von ihr nun für immer verloren war. Es hatte sich aufgelöst, wie jene Schleier aus berauschendem, graublauem Rauch, die vor wenigen Stunden noch durch das Gewölbe gezogen waren. Sie war keine Novizin mehr, sondern Teil des Ordens von Mördern, den die Himmelsschlangen gegründet hatten. Sie hatte sich entschieden und den Weg der Unschuld für immer verlassen. Sie gehörte nun dem Dunklen!

Aber ihr blieb ein Gewissen, entschied sie. Sie würde als Meisterin nicht minder rebellisch sein, als sie es als Schülerin der Weißen Halle gewesen war. Nandalee raffte ihr neues, bis zu den Hüften geschlitztes Kleid, um durch das Wasser zu waten, und verließ das Gewölbe über den Weg, den zu finden sie bei ihrer Gefangenschaft hier unten einst so viel Zeit gekostet hatte. Sie war noch nicht weit durch den Tunnel geschritten, der sie in die Freiheit führen würde, als sie in einer erleuchteten Wandnische ihr Schwert Todbringer fand. Der mächtige Zweihänder steckte in einer neuen Scheide aus braunem Leder, um die ein messingbeschlagener Gürtel gewickelt war, der es ihr erlauben würde, das Schwert auf dem Rücken zu tragen. Neben der Waffe lehnten ihr Bogen und ein neuer Köcher, ebenfalls aus braunem Leder und prall gefüllt mit Pfeilen.

Warum beschenkte der Dunkle sie, zeigte sich aber nicht? Sie legte die Waffen an. Es tat gut, wieder den Bogen in Händen zu halten. Wenn der Dunkle ihn hierhergebracht hatte, musste das wohl bedeuten, dass er ihr erlaubte, die Waffe zu nutzen, obwohl dies in der Weißen Halle auf so viel Widerstand gestoßen war. Die Meister fanden es unehrenhaft, einen Feind auf große Distanz zu töten, ohne ihm in die Augen gesehen zu haben. Nandalee hatte das immer für verlogen gehalten. Kaum ein Geschöpf Albenmarks konnte gegen einen Schwertkämpfer aus der Weißen Halle bestehen. Wer einem Drachenelfen gegenüberstand, den die Himmelsschlangen geschickt hatten, der war verloren. Ihren Klingen war ebenso wenig zu entkommen wie einem wohl gezielten Pfeil.

Mit festem Schritt verließ sie die Pyramide und trat aus dem uralten Gemäuer in eine sternenklare Nacht. Gonvalon stand auf der Wiese, von der nun alle Zelte verschwunden waren. Hinter ihm weideten Sternauge und Nachtschwinge.