Er wirkte überrascht, dann sah er sie lange an. »Ich liebe dich, Nandalee. Für mich wirst du immer schön sein. Ganz gleich, ob du den Leib eines Rehs aufbrichst, mich mit blutbespritztem Gesicht anschaust und deine Arme bis zu den Ellenbogen in den Eingeweiden stecken oder du frisch gewaschen einem See entsteigst. Du bist die Eine. Und das wirst du immer sein.«
Sie war so unglaublich erleichtert, suchte nach Worten, und wieder wollte es ihr nicht gelingen, ihre Liebe in Sprache zu kleiden. Gonvalon schien auch nichts zu erwarten. Er nahm den Handspiegel wieder an sich, schlug den großen Spiegel in die Wolldecke ein und löschte die Blendlaternen. »Ich habe ein verborgenes, kleines Tal in den Bergen entdeckt. Es gibt dort ein paar Bäume, eine kleine Quelle und ein paar Felsblöcke, die ganz gutes Rohmaterial für Büsten abgeben. Magst du mir zusehen, wie ich mich in den Pausen als Bildhauer versuche.«
»Den Pausen?«
Gonvalon lächelte anzüglich.
»Du glaubst wirklich, dass du in den Pausen etwas anderes tun wirst, als schwer atmend auf dem Rücken zu liegen, alter Mann?«
Er ging zu Nachtschwinge und zurrte die großen Satteltaschen fest. »Willst du es herausfinden?«
»Andere würden sich vermutlich erst einmal bei der Felsenburg melden. Gewiss erwarten mich Nodon und die übrigen Drachenelfen des Dunklen zu einem Willkommen.«
»Tja, andere sind so entsetzlich langweilig und vorhersehbar«, sagte Gonvalon gedehnt und fügte dann herausfordernd hinzu. »Aber manche verändert das Ritual von Grund auf.«
»Irgendwie fühle ich mich wirklich ganz anders«, sagte sie leise, kniete nieder und wickelte ihre Waffen in das neue Kleid.
»Was hast du vor?« Gonvalon war sichtlich irritiert.
»Als du die Trolle vor mir gerettet hast, hast du mich nackt auf deinem Pegasus reiten lassen. Und das bei bitterem Frost. Ich wollte das immer schon einmal bei angenehmeren Temperaturen wiederholen.«
Breit grinsend ging sie an ihm vorbei. Sternauge trabte ihr entgegen und begrüßte sie schnaubend. Sie tätschelte seine Nüstern. »Ich glaube, wenn ich so auf Nodons kleinem Fest erscheine, wird man noch eine Weile darüber reden.« Sie blickte über die Schulter und genoss Gonvalons Gesichtsausdruck.
Plötzlich öffnete er seinen Gürtel und begann, seinen grauen Waffenrock über die Schultern zu streifen.
»Was wird das?«
»Da du die Gewandfrage für diesen Abend entschieden hast, habe ich wohl keine Wahl, als …«
»Glaubst du wirklich, ich wäre lieber dort als mit dir allein, mein Liebster?«
Gonvalon lächelte schelmisch. »Ich bin nicht davon ausgegangen, dass du länger bleiben würdest, als nötig ist, um einen Skandal zu provozieren. Was bei dieser Abendgarderobe eine Angelegenheit von ein paar Augenblicken wäre. Augenblicke, die ich mir um nichts in der Welt entgehen ließe.«
»Du glaubst wirklich, ich würde …«
Gonvalon nickte sehr ernst. »Aber natürlich. Das passt zu dir. Ich habe keinen Moment gezweifelt.«
»Du meinst, ich …«
Er lachte und schüttelte den Kopf. »Lass uns aufhören mit dem Unsinn. Komm einfach mit mir. Lass uns verschwinden. Wenn sie uns brauchen, werden sie uns finden. Fliehen wir vor der Welt, solange sie uns noch gehen lässt. Schenk dich mir! Mein Herz ist wund vor Sehnsucht nach dir, und nur du kannst es heilen.« Mit diesen Worten sprang er auf den Rücken von Nachtschwinge, griff nach den Zügeln und preschte los. Er blickte nicht zurück, als sei er ganz sicher, dass sie ihm folgen würde. Und er hatte recht. Bei ihm zu sein war alles, was sie wollte.
Mit leichtem Herzen sprang nun auch Nandalee auf den Rücken ihres Pegasus, der Nachtschwinge in wildem Galopp folgte. Er preschte gegen die sanfte Brise, die über die Wiese strich, und bald schon hoben sie ab und glitten mit schwerem Flügelschlag über den Jadegarten gen Osten. Gonvalon liebte sie noch, dachte Nandalee unendlich erleichtert. Das Ritual mit Nachtatem hatte nichts daran geändert.
Sie flog ausgelassen jubelnd in den Himmel. Hinter den schroffen Schatten der Berge zeigte sich ein zarter Streifen silbernen Lichts. Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie glücklich.
Die Wolkenstadt
Barnaba stand am Bug des Wolkenschiffes. Unter ihnen zogen tief hängende Wolken, keine zwanzig Schritt links von ihnen erhob sich eine fast senkrechte Wand aus rotem Fels. Wind und Wetter hatten tiefe Wunden in das Gestein geschlagen, in dem sich verkrüppelte Bäume festklammerten.
Barnaba ließ seinen Blick über das Deck des Wolkenschiffes schweifen. Seine Anhänger kauerten um den Baum, der in schwarze Erde gebettet mitten aus dem Rumpf wuchs. Sie beteten zu Nangog. Hin und wieder wagte es einer aufzublicken und die seltsame Kreatur anzugaffen, die neben ihm auf der Reling kauerte: ein Geschöpf, halb Adler, halb Weib. Statt Armen wuchsen weite Schwingen aus ihrem Frauenkörper. Nase und Mund waren zu einem gekrümmten Schnabel verwachsen, das übrige Gesicht war hingegen fast noch menschlich. Die Beine unterhalb der Knie hatten sich in verhornte Vogelbeine verwandelt, die in messerscharfen Krallen endeten. Barnaba hatte die Kreatur davon überzeugen können, ein Tuch um die Lenden zu tragen, um weniger Anstoß unter seinem Gefolge zu erregen. Das Ungeheuer ließ sich von ihm anfassen, aber von niemandem sonst.
Im Bauch des Wolkensammlers hatte er davon geträumt, was auf der Welt geschehen war. Wie die Geschöpfe Nangogs mit Menschen verschmolzen waren und den Grünen Geistern Leiber geboren hatten. Tausende neue Ungeheuer streiften durch die weiten Wälder, und sie hatten hunderterlei Formen angenommen. Sie alle waren vom Hass auf die Eindringlinge in ihre Welt beseelt, allerdings spürten sie auch, wer seinen Weg zur Großen Göttin gefunden hatte. Wehe denen, die den Devanthar nicht abgeschworen hatten! Bei ihrem ersten Besuch hatte die Kreatur einen Wolkenschiffer aus der Takelage gezerrt und in die Tiefe stürzen lassen. Danach war sie für eine Weile verschwunden gewesen. Barnaba hegte keinen Zweifel daran, dass das Vogelweib ein Festmahl am zerschmetterten Kadaver des Unglücklichen abgehalten hatte.
Ein ängstliches Raunen seiner Jünger riss ihn aus seinen Gedanken, und er drehte sich um. Steuerbord schrammten die Spitzen der Masten, die fast waagerecht aus dem Rumpf ragten, beinahe die Felswand. Seit einigen Stunden flogen sie nun schon zwischen himmelhohen Tafelbergen hindurch, die sich wie geborstene Säulen eines riesigen Palastes aus dem weiten Dschungel erhoben. Sie waren so nah, dass Barnaba ganz deutlich eine hundegroße Eidechse die Felswand hinaufklettern sah.
»Wir alle sind in der Hand der Großen Göttin«, sagte er laut. »Fürchtet euch nicht, meine Freunde, unsere neue Heimat ist nah.«
Barnaba sah zurück. Sie hatten schon vor über einer Stunde die Sicht zum zweiten Wolkenschiff verloren, das während des Bebens mit ihnen aus der Goldenen Stadt geflohen war. Der Priester streichelte über die dünne Wurzel, die das Holz der Reling gespalten hatte. Der Schiffsbaum war überall an Bord präsent. Sein Wurzelwerk hatte alle Decks durchdrungen, und seine Äste reichten tief in den Leib des Wolkensammlers Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer hinein. Es war der Baum, der das Schiff und die riesige, tentakelbewehrte Kreatur eins werden ließ. Wie Nervenbahnen verbanden sich Äste und Wurzelwerk mit dem Konstrukt aus totem Holz. Die Lotsen in ihren gläsernen Kanzeln unter dem Rumpf konnten ihre Gedanken durch den Baum an den Wolkensammler übermitteln. Meist jedenfalls. Barnaba bezweifelte, dass es auf ganz Nangog einen zweiten Mann gab, der eine dieser Himmelskreaturen so verstand wie er. Er hatte die Träume von Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer geteilt, war in die verwickelten Gedanken der sieben Gehirne des Wolkensammlers eingetaucht. Er wusste, dass das riesige Geschöpf Gedichte über Schneeflocken ersann, wusste, an welchen Baumriesen er besonders gerne ankerte und teilte die Erinnerung daran, wie der junge Wolkensammler von einem Adler schwer verletzt worden war. Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer mochte die Kreatur, die auf der Reling hockte, nicht. Obwohl sie so grotesk entstellt war, erinnere sie ihn immer noch zu sehr an einen Adler. Sie weckte kämpferische Gefühle in ihm.