Kolja stieg aus einem Luk an Deck und kam zu ihm herüber. Der narbige Krieger ließ seine verbliebene Hand stets auf dem Schwertknauf ruhen, wenn er in die Nähe des Vogelweibs kam. Barnaba wusste, wer der Söldner gewesen war. Der Wolkensammler hatte ihn vor Bluthand, wie er Kolja nannte, gewarnt.
»Veccio flucht so lautstark, dass man ihn im halben Schiff hören kann«, rief Kolja Barnaba entgegen. Er blieb in einigem Abstand stehen und ließ das Vogelweib nicht aus den Augen. »Vorhin wäre seine Kanzel fast von einer Felsnadel abgerissen worden, die plötzlich aus den Wolken aufragte.«
»Sag dem Lotsen, dass wir in weniger als einer halben Stunde unser Ziel erreichen werden. Ich fürchte, das letzte Flugmanöver wird ihn noch einige Nerven kosten.«
Der Söldner sah ihn so überrascht an, dass Barnaba schmunzeln musste. »Ich bin ein Heiliger Mann. Ich weiß um alles, was auf dem Schiff geschieht, so auch, dass Veccio dich hierhergeschickt hat, um diese Auskunft einzuholen.«
Kolja musterte ihn argwöhnisch. Barnaba konnte spüren, dass ihm der hünenhafte Krieger nicht glaubte. Und er hatte völlig recht – es war Wind vor regenschwerem Horizont, der ihn über alles, was an Bord geschah, informierte. Barnaba musste nur über eine der Wurzeln streichen, um mit ihm verbunden zu sein.
»Soll ich Veccio auch das mit dem letzten Flugmanöver ausrichten?«
»Hast du Sorgen, dass er vor Angst in seine Glaskanzel pisst?«
Kolja schüttelte seinen entstellten Kopf. »Das hat er schon.«
»Es liegt bei dir, wie viel du ihm verrätst.«
Der Hüne grunzte und kehrte zurück zu dem Luk, durch das er gekommen war. Er würde durch zehn Decks hinabsteigen, bis zu der gläsernen Lotsenkanzel, die unter dem Rumpf des Schiffes hing. Nur von dort gab es freie Sicht in jede Richtung, außer nach oben.
Es missfiel Kolja sichtlich, den Laufburschen zu spielen. Bluthand war ein passender Name für ihn. In der Wolkenstadt, unter den Himmelspiraten von Tarkon Eisenzunge, würde er sich gewiss wohler fühlen als hier bei ihnen.
Wind vor regenschwerem Horizont verlor ein wenig an Höhe, und das Schiff tauchte in die Wolkenbank. Barnaba war enttäuscht gewesen, als er zum ersten Mal durch Wolken geflogen war. Im Sonnenlicht sahen sie wunderschön aus, als seien sie aus Ziegenkäse geschnitten. Doch durchquerte man sie, verflog aller Zauber, und es blieb nur besonders dichter, kühler Nebel.
Das Vogelweib stieß einen krächzenden Laut aus und trat nervös von einem Bein auf das andere. Spürte sie, wohin die Reise ging? Gab es noch Verstand in diesem Kopf? Barnaba dachte an die Zeit, die er im Leib des Wolkensammlers verbracht hatte. Den langen Traum von dieser neuen Welt, der ihm Antwort auf seinen brennenden Schmerz gegeben hatte. Hier auf Nangog könnte sein Feldzug der Rache, nach dem er sich so sehnte, die Fackel der Freiheit entzünden. Seine Rache bekäme einen übergeordneten Sinn. Sich dafür zu opfern, wäre nicht mehr nur selbstsüchtig, er opferte sich zugleich auch für die Freiheit dieser Welt, die so anders als seine ferne Heimat sein könnte. Barnaba tastete nach dem Dolch an seinem Gürtel. Die Waffe, die er vor der Vernichtung bewahrt hatte und die das Blut des Unsterblichen Aaron vergießen würde.
Voller Zuversicht blickte er in den Nebel. Seine Zukunft lag klar vor ihm. Er würde diese Welt verändern. Es hatte bereits begonnen, doch was bisher geschehen war, war nichts im Vergleich zu dem, was er entfesseln würde, wenn er erst das Traumeis gewann. Nangog war ihm in seinem Traum im Leib des Wolkensammlers erschienen, und sie hatte ihm verheißen, was durch das Traumeis bewegt werden konnte.
Der Nebel lichtete sich. Sie hatten die Wolkendecke durchstoßen und flogen auf eine Felswand zu, in der sich eine gewaltige Öffnung befand, so, als sei sie vom Hammer eines zornigen Gottes getroffen worden. Sie erinnerte Barnaba an ein Tor, groß genug, dass selbst die gewaltigsten der Wolkensammler hindurchfliegen konnten. Doch vielleicht hundert Schritt im Inneren des Tors wogte ein silberner Schleier, der die Sicht tiefer in den Berg hinein versperrte. Bäume und mannshohe Farne wucherten in dieser Öffnung. Ein Schwarm großer, roter Vögel kam ihnen entgegengeflogen, als sie sich dem Loch im Fels näherten.
Das Vogelweib schwang sich in die Luft auf und segelte auf weit ausgebreiteten Schwingen neben dem Wolkensammler. Plötzlich überkamen Barnaba Zweifel. Hatte er sich verschätzt? War der Durchlass wirklich groß genug? Seine Gefolgsleute blickten auf dem Deck kniend zu ihm auf. Der Priester breitete die Arme aus. »Alles wird gut!«, sagte er mit Donnerstimme, sich wohl bewusst, dass er nun auch gegen seine eigene Angst anpredigte. »Wir sind in der Hand Nangogs. Sie führt und schützt uns.«
Das Wolkenschiff war keine hundert Schritt mehr von der Öffnung entfernt. Der aufgedunsene Leib von Wind vor regenschwerem Horizont gab zischende und glucksende Laute von sich. Die Tentakel peitschten nervös in die Luft. Die stärksten der Fangarme tasteten nach der roten Felswand, einige fanden Halt. Sie zerrten das Schiff tiefer in die Höhle hinein, es wurde dunkler, und eine kühle Brise, die feine Wassertröpfchen mit sich trug, schlug ihnen entgegen.
Die Vögel, die im Schiffsbaum lebten, zwitscherten nervös. Nun begann auch Barnaba zu beten. Stumm flehte er die Große Göttin an, sie alle zu schützen. Vom Silberschleier drang nun ein lautes Rauschen zu ihnen. Ein Wasserfall lag hinter dem weiten Loch in der Felswand, und Wind vor regenschwerem Horizont flog geradewegs auf die tosende Gischt zu!
Ein Ruck lief durch das Schiff, als der Leib des Wolkensammlers gegen die gewölbte Decke aus rotem Gestein stieß. Das Schiff scherte nach Steuerbord aus, und mit scharfem Knall brach die Spitze des Steuerbordhauptmastes. Lauter und verzweifelter ertönten die Gebete seiner Gefolgsleute. Tentakel schnellten nach vorn und zerrten sie dem Wasserfall entgegen. Das Prasseln des Wassers war ohrenbetäubend. Der Leib des Wolkensammlers hing wie ein großer Schirm über dem Schiff. Obwohl sich um sie herum ein Getöse erhob, als wolle die Welt zerbrechen, spritzte nur Sprühwasser über das Deck, als sie ganz und gar vom Silberschleier des Wasserfalls eingehüllt wurden.
Plötzlich war das Vogelweib wieder da. Nass und mit zerzaustem Gefieder landete es neben Barnaba auf dem Deck. Er strich ihr über das lange, schwarze Haar. Sie gab wimmernde Laute von sich, drückte aber den Kopf fest gegen seine Hand, als habe sie lange nicht mehr die Berührung einer barmherzigen Hand gespürt. Wer sie in ihrem früheren Leben wohl gewesen war? Noch während er dies dachte, schob sich der Leib des Wolkensammlers vollends durch den Wasserfall, und sie tauchten in eine breite Bahn aus goldenem Licht ein.
Barnaba hielt den Atem an … sie flogen in eine Höhle hinein, die fünf oder sechs Meilen weit sein musste! Es schien, als sei der ganze Tafelberg, dem sie entgegengeflogen waren, von innen ausgehöhlt. Speere aus Licht durchbrachen die Finsternis. Er eilte zur Reling und lehnte sich weit nach vorn, um am Leib von Wind vor regenschwerem Horizont vorbei zur Decke der Höhle blicken zu können. Sie war von Öffnungen, groß wie Stadttore, durchbrochen. Wurzelwerk und dunkelgrüne Ranken wucherten dort. Vor dem Himmel zeichnete sich das Blätterwerk von Bäumen ab. Wahrscheinlich waren die Lichtschächte von oben, wenn jemand den Tafelberg überflog, trotz ihrer Größe kaum auszumachen. Tarkon hatte das vollkommene Versteck gefunden! Nun wunderte es Barnaba nicht mehr, dass der Himmelspirat von den Unsterblichen so lange vergeblich gejagt worden war. Diesen Ort konnte man nur mit Hilfe eines Verräters aufspüren.
Der Priester ahnte, was nun kommen würde. Auf einem breiten Felsvorsprung am gegenüberliegenden Ende der Höhle war eine Siedlung errichtet worden. Holzbaracken und Zelte umringten ein halbes Dutzend steinerner Bauten. Das Einzige, was dort wirklich solide aussah, waren die drei Ankertürme, an denen zwei kleinere Wolkensammler vertäut waren. Schon aus der Ferne konnte Barnaba sehen, dass in der Siedlung helle Aufregung herrschte. Auf den Flachdächern der Steinbauten sammelten sich Bogenschützen, während andere Männer eilends an Bord der Wolkenschiffe gingen. Er hörte, wie sich das Rauschen des Wasserfalls veränderte. Ihr zweites Schiff hatte seinen Weg in die Höhle gefunden. Jetzt erst bemerkte er, dass der Grund der Höhle ganz von einem See eingenommen wurde. Unterhalb der Siedlung gab es Stege, und einige kleine Boote waren auf das Ufer hinaufgezogen worden.