»Dein Wunsch wird dir erfüllt werden, Lamgi. Und ich wünsche dir Glück bei dieser schwierigen Aufgabe. Mögen wir uns bald wiedersehen.«
Der Bauernkrieger verneigte sich und verließ dann das kleine Zelt, das inmitten des Trümmerfelds des Töpferviertels aufgeschlagen stand. Ashot, der die ganze Zeit über schweigend neben dem Eingang gestanden hatte, spuckte aus, nachdem Lamgi verschwunden war. »Ich trau dem Kerl nicht. Ihr solltet ihn nicht in Eure Nähe lassen, Erhabener. Etwas stinkt an dieser Sache.«
»Was hat er verbrochen, dass du ihn so sehr verachtest?«
»Er hat in der Schlacht in Eurem Rücken gestanden, Herr. So wie Narek. Er hätte sehen müssen, wer Narek ermordet hat – aber er behauptet, ihm sei nichts aufgefallen.«
Artax seufzte. »Das ist alles? Du hast selbst in der Schlacht gekämpft. Du weißt, wie es war. Man hat nur Augen für die Feinde und dazu eine verdammte Todesangst. Ich finde es nicht verdächtig, dass er nicht bemerkt hat, wie Narek starb.« Artax spürte einen Kloß im Hals aufsteigen. Es war so viel geschehen, seit er seinen toten Freund nach Belbek zurückgebracht hatte. Er hatte keine Zeit gehabt, um Narek zu trauern. Die Wunde, die sein Tod hinterlassen hatte, hatte nicht heilen können.
»An jenem Tag sind viele tapfere Männer an meiner Seite gefallen«, sagte er bitter. »An die meisten erinnere ich mich auch nicht mehr.«
»Ich mag ihn nicht«, beharrte Ashot. »Er hat so etwas …« Er hob hilflos die Hände. »Es ist, als wäre er nicht da. Er verschwindet trotz seiner auffälligen Gestalt, wenn er unter Menschen ist. Er trinkt nicht, flucht nicht, hat keine Laster. Wenn er auf ein Fest geht, dann kann sich hinterher niemand sicher erinnern, ob er tatsächlich da gewesen ist, weil er mit niemandem geredet hat. Er steht nur in einer schattigen Ecke und sieht zu. Er ist wie ein Geist. So einen Mann könnt Ihr nicht als Hauptmann in Eurer Leibwache gebrauchen, Unsterblicher.«
»So, wie du ihn beschreibst, ist er genau der Richtige für diese Mission.« Artax blickte auf den Tisch voller Tontafeln, die nie weniger wurden, ganz gleich, wie hart er arbeitete. »Seit dem großen Beben sind drei Kornschiffe von Tarkon gekapert worden. Du weißt, dass der Winter Hunger in die sieben Königreiche bringen wird. Ich bin mir mit dem Unsterblichen Labarna, mit Leon, dem Statthalter von Valesia, und Prinz Subai, Statthalter von Ischkuza, einig. Wir müssen herausfinden, wo Tarkon sein Versteck hat, und die Bedrohung durch den Piraten ein für alle Mal beenden. Sie alle suchen nach ihm, und alle werden sie Truppen und Himmelsschiffe zur Verfügung stellen, wenn er gefunden wird.«
Ashot senkte niedergeschlagen das Haupt.
»Was?«, fragte Artax gereizt.
»Ihr führt zu viele Kriege, Herr. Die Ebene von Kush, Bessos und Eleasar, der Kampf gegen die Zapote … Gibt es denn niemals Frieden?«
Artax ging zum Eingang des Zeltes und wies auf die verwüstete Stadt. »Siehst du das, Ashot? Tausende dort unten hungern. Sie haben kein Dach mehr über dem Kopf. Haben alles verloren. Eines der Schiffe, das Tarkon plünderte, sollte Lebensmittel für die Hungernden dieser Stadt bringen. Kann ich das dulden, Ashot? In den Lazaretten gibt es Männer, denen nun die Handvoll Korn fehlt, um einen Tag länger zu leben. Was für ein Herrscher wäre ich, wenn ich das dulden würde?«
Ashot seufzte. »Ich sagte ja nicht, dass es nicht gute Gründe gäbe …«
»Komm, mein Freund. Es ist viel zu tun. Die anderen warten auf uns. Wir sollten nicht so lange der Versammlung fernbleiben. Sonst sieht es noch so aus, als drückten wir uns um unsere Verantwortung.«
Artax verließ das Zelt und schritt über den hölzernen Steg, der über die Ruine des Tempels der kleinen Götter führte. Hier waren vor dem Beben Heiligen aus allen Regionen Daias Altäre errichtet worden. Am Ende des Stegs gab es nur noch einen Weg aus schmalen Planken, die durch das weite Trümmerfeld gelegt waren. Unter dem einzigen, verbliebenen Mauerbogen des Aquädukts in diesem Viertel war eine hölzerne Plattform auf Stelzen errichtet worden. Im Wind, der vom Großen Fluss den Hang des Weltenmunds heraufwehte, flatterten die Banner der Unsterblichen.
Hierher kamen die Bittsteller aus den Ruinen, die Baumeister, die aus allen Ländern Daias herbeigerufen worden waren und sich bemühten, wieder Ordnung in die halb zerstörte Stadt zu bringen. Freiwillige Helfer meldeten sich hier und wurden Trupps zugeteilt, die damit begonnen hatten, systematisch die Trümmer zu beseitigen. Diese Plattform war zum Herzen der Goldenen Stadt geworden. Alle Entscheidungen von Bedeutung wurden hier getroffen.
Beim Näherkommen sah Artax Labarna, den Unsterblichen von Luwien, der alle Männer um sich herum überragte. Der Herrscher trug nur eine schlichte, braune Tunika. Seine Hände waren aufgeschürft. Er war sich nicht zu schade, selbst mit anzupacken, wenn es galt, schwere Gesteinsbrocken zu bewegen. Als er Artax bemerkte, winkte er ihm aufgeregt zu. »Ein Wunder ist geschehen!«
Artax erklomm dicht gefolgt von Ashot die kurze Leiter zur Plattform. Labarna kam ihm entgegen. Der Unsterbliche war über und über mit dem roten Staub geborstener Ziegelsteine bedeckt. »Wir haben noch drei Überlebende gefunden. Beim Platz der tausend Zungen. Sie waren in einem Gewölbe verschüttet. Es gab dort Wasser und ein wenig zu essen. Sie sind völlig abgemagert und zu schwach, um auf den Beinen zu stehen, aber sie leben. Und das dreiundzwanzig Tage nach dem Erdbeben. Es ist unglaublich! Ein Wunder!«
»Das ist gut«, sagte Artax begeistert. »Wirklich gut! Unsere Stadt braucht Wunder. Sie geben allen Kraft und neue Hoffnung.« Aus dem Augenwinkel sah Artax den Galgen hinter dem Aquädukt. Nicht alles, was Labarna tat, gefiel ihm. Gegen Plünderer war der Luwier unbarmherzig. Sie wurden hierhergebracht und gehenkt. Allerdings hatte Artax auch schon erlebt, dass Labarna im Zweifel für den Angeklagten entschied.
Artax sah sich um. Einige Würdenträger und Hauptleute standen auf der Plattform, Schreiber und auch zwei Baumeister, deren Aufgabe es war zu entscheiden, welche Gebäude noch zu retten waren und welche zur Sicherheit eingerissen werden sollten.
»Wo steckt Arcumenna?«
Labarna schnaubte verächtlich. »Er erholt sich von der Last der Verantwortung. Wie immer während der heißesten Tagesstunden. Wenigstens arbeiten seine Männer noch.«
Artax seufzte. Er hatte versucht, alle Unsterblichen dafür zu gewinnen, ein Zeichen zu setzen und den Einwohnern der Goldenen Stadt mit allen Mitteln zu helfen. Nur Labarna war ihm gefolgt. Krieger, die sich vor wenigen Wochen erst auf der Hochebene von Kush als Todfeinde begegnet waren, arbeiteten nun Seite an Seite. Madyas, der Unsterbliche, der über die Ischkuzaia herrschte, hatte seinen Sohn Prinz Subai, seinen Statthalter auf Nangog, angewiesen, ihnen zu helfen. Doch der ritt lieber mit seinen Adlern zur Jagd in die Wälder. Wenn er wenigstens den Daimonen nachstellen würde, über die sie nun immer mehr Berichte erhielten. Mit Schaudern dachte Artax an den Krokodilmann, dessen Leiche man ihm vor drei Tagen gezeigt hatte. Vielleicht konnte er den Prinzen ja bei seinem Stolz packen und ihn überreden, diesem gefährlicheren Wild nachzustellen. Bislang halfen nur einige wenige Männer seiner Leibwache bei den Aufräumarbeiten. Manchmal stolzierte Subai durch den Schutt und gab mehr oder weniger sinnvolle Befehle.
Arcumenna, der Laris von Truria und Statthalter auf Nangog, vertrat den Unsterblichen Ansur von Valesia. Er bemühte sich nach Kräften. Wenn es nicht zu heiß war … Sein Herrscher hatte keinen einzigen der Arbeiter aus Selinunt abgezogen, der Weißen Stadt, die er in seinem Königreich errichten ließ. Sein Traum war es, die schönste Stadt Daias zu erbauen. Iwar, der Unsterbliche von Drusna, verfügte zwar über keine Mittel und Vorräte, aber er hatte fünfhundert kräftige Holzfäller geschickt, unter der Bedingung, dass andere sich darum kümmerten, sie zu verköstigen und zu bezahlen.
Die Zapote lehnten jede Zusammenarbeit mit ihm ab. Wahrscheinlich würde es wegen seines Überfalls auf den Tempel zum Krieg mit ihnen kommen, dachte Artax bitter. Ashot hatte recht: Er war dazu verdammt, von Schlachtfeld zu Schlachtfeld zu ziehen.