»Er hat gestohlen, was der Schlange gehörte«, kam es zischelnd aus der Dunkelheit. Kurz erhaschte Artax einen Blick auf einen Schlangenleib, der sich um eine graue Säule wand. Mächtige Schwingen wuchsen aus dem Rücken der Kreatur, und geschlitzte Pupillen durchbohrten ihn mit ihrem Hass.
Artax war froh, als die Kreatur wieder von gnädiger Dunkelheit verschlungen wurde.
»Den Frieden des Tempels hat er gebrochen, Priester gemordet und den Auserwählten vom Altar geraubt. Ich verlange, dass sein Herz der Gefiederten Schlange geopfert wird.«
Artax nahm all seinen Mut zusammen, blickte fest auf die Säule aus Dunkelheit, die die Schlange verschlungen hatte, und antwortete: »Wer in den Ring tritt und als Erster die Faust erhebt, dem steht es nicht zu zu jammern, wenn er durch die Faust fällt.«
In einem fernen Winkel des Saals ertönte Gelächter.
»Gut gesprochen, Mensch«, rief eine helle Stimme.
»Volodi aus Drusna, Hauptmann meiner Leibwache, wurde nach der Schlacht auf der Hochebene von Kush entführt, von Männern, die ich für Verbündete gehalten hatte. Vor dem Weißen Tor der Tempelstadt hat man ihm offenbart, dass die Frau, die er liebte, einen grausamen Tod sterben würde, wenn er nicht anerkennen würde, ein Auserwählter zu sein. Er hat nicht freiwillig die Tempelgärten betreten! Die Tempeldiener Zapotes haben sich die Freiheit genommen, mir einen Mann zu stehlen, der sich mir verschworen hatte. Und deshalb habe ich mir die Freiheit genommen, mir zurückzuholen, was mir gehört. Männern, die mit ihrem Leben für mich einstehen, schulde ich nicht weniger als genau das: mein Leben für sie zu wagen. Wenn dies nicht Eure Vorstellungen der Tugenden eines Herrschers sind, dann füge ich mich Eurem Richtspruch. Ich jedoch werde nie anders handeln, als ich es für Volodi getan habe.«
Ein riesiger, schwarzer Bär löste sich aus den Schatten. Eines seiner Augen war blutunterlaufen, seine Schnauze von den Schrammen vieler Kämpfe verunstaltet. Vor Aaron richtete er sich auf die Hinterbeine auf. Der Bär überragte ihn um drei Haupteslängen. »Du bist ein Mann nach meinem Geschmack, Aaron von Aram«, sagte er mit brummiger Bassstimme.
Artax war sich nicht sicher, ob das ein Kompliment war, oder ob es ganz anders zu verstehen war. »So wie du sollten all unsere Unsterblichen sein.«
»Doppelzüngig und intrigant wünschst du dir unsere Herrscher?«, fragte eine wohlmodulierte Stimme. Zwischen den wandernden Schatten trat eine hochgewachsene Frau in einem himmelblauen Kleid, gesäumt von filigranen Silberborten, hervor. Ihr fein geschnittenes Gesicht wurde von schwarzem Haar gerahmt, und schwarze Schwingen ragten über ihren Schultern auf. Išta!
»Worte sind wohlfeil, meine Schwester«, grollte der Löwenhäuptige neben Artax. »Welche Beweise hast du gegen Aaron vorzubringen?«
Išta wandte sich nun an die Versammlung der Göttlichen. »Viele von euch haben mich begleitet, als ich zum Grab der Riesin hinabstieg, um ihre Fesseln zu prüfen. Ihr alle habt den toten Elfen gesehen, der eine Rüstung der Leibwache des Unsterblichen Aaron trug. Doch habt ihr auch die richtigen Schlüsse aus dem gezogen, was ihr gesehen habt?
Es war Aaron, der die Elfen dort hinabgeführt hat. Er hat ihnen den Weg zu Nangog geöffnet. Sie haben seinen Angriff genutzt, um in die verborgenen Tiefen des Tempels hinabzusteigen. Wäre nicht ein ganzes Heer eingefallen, die Jaguarmänner hätten die Elfen vielleicht aufgehalten. Und selbst wenn nicht, hätten unsere Priester meinen Bruder, die Gefiederte Schlange, sofort um Hilfe angerufen. Es hätte nicht verborgen bleiben können, was dort geschieht. Wir wären den Zapote zu Hilfe geeilt, so wie beim letzten Mal, als Elfen es wagten, in den Weltenmund hinabzusteigen.
Aber Aaron hat sie unter seinen Mantel schlüpfen lassen. In seiner Einfalt hat er sich zu ihrem willfährigen Diener gemacht. Dass Nangog fast befreit wurde, dass unsere Städte von Flutwellen, Erdbeben und Feuersbrünsten zerstört wurden. Dass Hunger in unsere Königreiche kommen wird und dass das Gleichgewicht zwischen den drei Welten auf immer gestört wurde, ist die Schuld eines einzigen Mannes, Aarons! Nie zuvor gab es einen Menschen, der uns so großen Schaden zugefügt hat. Ich verlange seinen Tod. Ein langer, grausamer Tod soll es sein. Und viele Menschen sollen Zeugen unseres Urteils sein, auf dass sie gewarnt seien!«
Artax war erschüttert. Er erinnerte sich an die toten Jaguarmänner, die er am Schlangenschlund gesehen hatte. Unter seinen Wachen machten Erzählungen die Runde, dass sich unter Koljas Söldnern ein kleiner Trupp Schwertkämpfer befunden hatte, der die Krieger der Zapote das Fürchten gelehrt hatte. Jene Männer Koljas waren seit der Schlacht, ebenso wie der vernarbte Drusnier, spurlos verschwunden. Sie waren nun unter Kushiten und Zinnernen die geheimen Helden des Kampfes in der Tempelstadt. Niemals wäre es Artax eingefallen, dass Daimonen für ihn gefochten haben könnten. Seine Krieger hatten schon öfter als nur einmal vollbracht, was alle für unmöglich hielten.
»Was sagst du zu diesen Anschuldigungen?«, kläffte ihn ein großer weißer Wolf an.
»Ich bin erschüttert«, sagte er wahrheitsgemäß. »Genau wie ihr erfahre auch ich erst in diesem Augenblick, dass ich von Daimonenkindern getäuscht wurde. Und ich zweifle nicht daran, dass die Worte Ištas wahr sind. Nun fügt sich so manches, was mir rätselhaft geblieben war.«
»Du willst es nicht gewusst haben?«, verhöhnte ihn Išta. »Du hast jahrelang einen Elfen als engsten Vertrauten an deinem Hof geduldet. Einen Mann ohne Bart und mit goldenem Haar unter Hunderten bärtigen, schwarzhaarigen Männern. Willst du uns ernsthaft vorlügen, du hättest nicht bemerkt, wie andersartig er war?«
Artax las in den Gesichtern der Devanthar – sofern es keine undeutbaren Tierfratzen waren –, dass der Kampf um seine Sache verloren war. Išta war letztlich also doch an ihr Ziel gelangt. Sie würde seinen Kopf bekommen. Aber diese Gewissheit schenkte ihm auch Freiheit. Er konnte nicht mehr verlieren, nur noch gewinnen, ganz gleich, was er sagte. Er musste sich keinen Regeln der Höflichkeit mehr unterwerfen.
»Andersartigkeit ist also ein Grund, sofort das Schlimmste zu vermuten?« Er ließ seinen Blick über die versammelten Götter wandern. »Es überrascht mich, dies aus dem Munde jener zu hören, die so großen Wert darauf legen, ihren Geschwistern auf keinen Fall zu gleichen.«
»Zerreißt das Großmaul!«, forderte eine Gestalt, die ganz in lodernde Flammen gehüllt war, von denen jedoch eigentümlicherweise kein Licht ausstrahlte.
»Ja, ich gestehe«, fuhr Artax fort. »Ich war vielleicht arglos. Ich habe meinen Hofmeister Datames nie nach seinem Aussehen beurteilt. Für mich zählte allein seine Arbeit. Und selbst wenn er ein Daimon gewesen ist, so sind seine Verdienste um Aram unleugbar. Er hat die Verwaltung reformiert. Selbst jetzt, da er fort ist, arbeiten meine Schreiber und Beamten immer noch besser als vor seiner Zeit. Ich habe nie erkannt, dass er ein Spitzel war, und dies war auch nicht der Grund, warum ich ihn schließlich von meinem Hof verbannte.« Artax blickte herausfordernd zu Išta. »Im Zelt des Datames wurde ein Mord begangen, so grausam, dass er selbst meine Veteranen erschütterte. Ein junges Mädchen aus den Seidenstädten war das Opfer. Und ein jeder glaubte, Datames sei es gewesen. Ich jedoch weiß es besser. Išta kam als Mörderin in mein Heerlager, um Datames, den sie nicht in seinem Zelt angetroffen hatte, durch diese Bluttat zu vernichten. Und nun, himmlische Herrscherin von Luwien, beantworte mir zwei Fragen. Warum kamst du nicht zu mir, um mir zu sagen, wer sich hinter der Maske des Hofmeisters verbarg? Und wie lange wusstest du schon um sein Geheimnis?«
»Wie kannst du es wagen?«
Der Zorn der Göttin traf Artax wie glühende Lohe. Ganz so, als sei ihr verzehrender Hass greifbar geworden. Er wich einen Schritt vor ihr zurück, senkte aber nicht den Blick. »Soll ich an deiner Stelle antworten, allmächtige Išta? Kleinliche Intrigen waren es, die dich schweigen ließen. Dein Wunsch, mich zu vernichten, wenn ich hier im Gelben Turm vor die Devanthar trete, um euch meinen Traum von einer besseren Welt zu schildern. Dein Wunsch war es, dass meine Visionen unausgesprochen bleiben und ich mich nicht über deinen Sterblichen, Muwatta, erhebe.« Artax wandte sich an all die Gestalten im Licht und im Schatten. »Ihr kennt eure Schwester. Ihr wisst, dass es wahr ist, was ich sage. Meine Schuld ist einzig, den Intrigen einer Göttin nicht gewachsen gewesen zu sein, denn ich bin nur ein Sterblicher, und meinem Charakter entspricht es nicht, einzig auf meinen Vorteil bedacht zu sein.«