Endlich erreichten sie eine mit breiten Eisenbändern beschlagene Eichentür, die in ihrer Mitte drei nebeneinanderliegende Schlüssellöcher besaß. Glamir löste den schweren Schlüsselbund von seinem Gürtel. Als er die Schlüssel in den Schlössern drehte, war scharfes, metallisches Klacken und das leise Geräusch gut geschmierter Zahnräder zu hören. Galar trat ein wenig näher. Er kannte sich mit Schlössern gut aus. Gern hätte er sein Ohr auf das Eichenholz gelegt, um dem verborgenen Mechanismus zu lauschen, den der Alte mit dem Drehen der Schlüssel in Gang gesetzt hatte. Zuletzt vernahm er ein leises, schleifendes Geräusch, als würden schwere Sperrriegel seitlich ins Felsgestein zurückweichen.
»Ist ein feines Schloss. Hab lange dran getüftelt«, erklärte Glamir mit wichtigtuerischem Lächeln und zog die Schlüssel ab. »Diese Kammer birgt das größte Geheimnis meines Turms. Es ist eine Entdeckung, die den Zwergenvölkern Freiheit von den Tyrannen am Himmel schenken wird … Obwohl ich mir sicher bin, dass du es nicht einmal begreifen wirst, wenn du direkt davorstehst.« Er lachte spöttisch und drehte sich zu Galar um. »Schluck nicht deinen Ärger. Ich weiß genau, dass du mich für ein altes Arschloch hältst, und allein deine Begierde zu erfahren, was hier im Turm wirklich vor sich geht, deinem lockeren Maul Zügel anlegt.«
»Quatschen wir nicht, gehen wir endlich hinein«, entgegnete Galar. Er würde die Überheblichkeit des Alten tatsächlich nicht mehr lange ertragen können. Besser, sie brachten es schnell hinter sich.
Glamir stieß die Tür auf. Eine einzelne Öllampe brannte auf einem Tisch, vermochte die Dunkelheit aber nicht zu vertreiben. Neben dem Tisch waren zwei Windenarmbrüste auf massiven, hölzernen Dreibeinen aufgebockt worden. Die Waffen wiesen in die Dunkelheit.
»Ich weiß, dass dir Amalaswintha von diesem Tunnel erzählt hat, Galar, du musst dir also nicht die Mühe machen, überrascht zu tun. Die Überraschung wird sein, was unsere kleine Hexe nicht weiß. Das hier ist ein Schießstand.«
Galar war wenig beeindruckt. Dass er auf einem Schießstand war, hatte er sich schon gedacht, kaum dass er die Armbrüste gesehen hatte.
Glamir schien zu bemerken, dass seine Offenbarung nicht den gewünschten Effekt hatte. Er nahm die Öllampe vom Tisch und gab sie Galar. »Geh mal ein bisschen voraus. Ich lade inzwischen die beiden Armbrüste. Ich verspreche dir, du wirst zutiefst von dem beeindruckt sein, was du siehst.«
Galar gefiel der Gedanke gar nicht, vor zwei Armbrüsten herumzulaufen, die gerade geladen wurden. Ein Unfall auf einem Schießstand … So etwas konnte passieren. War das der zweite Versuch, ihn loszuwerden, nachdem er den Unfall bei seinem Tauchgang überlebt hatte? Mit der Öllampe in der Hand wäre er in dem langen Tunnel ein unübersehbares Ziel. Und eine fest auf ein Dreibein montierte Armbrust konnte auch ein Einarmiger ohne Schwierigkeiten bedienen.
»Haben wir ein Problem?«, fragte Glamir.
Der Schmied wusste mit Sicherheit ganz genau, was jetzt in ihm vorging, dachte Galar. Und ganz sicher genoss er es. Galar entschied, lieber zu verrecken, als wie ein Feigling dazustehen. »Derjenige von uns, der ein Problem damit hat, ein bisschen spazieren zu gehen, bin ganz sicher nicht ich.« Mit diesen Worten nahm er die Lampe und ging tiefer in den Tunnel hinein. Er war nur etwa vier Schritt breit, aber wenn stimmte, was Amalaswintha behauptet hatte, dann ersteckte er sich über etwa eine Meile. Was hatte sie noch gesagt? Er sei pfeilgerade. Sie war wirklich gut mit ihren Vorhersagen.
Hinter sich hörte Galar das metallische Klicken der Winde, mit der eine der beiden Armbrüste gespannt wurde. Ein Geräusch, das ihm die Haare im Nacken zu Berge stehen ließ. Ob Glamir ein guter Schütze war?
Galar war versucht, ein wenig schneller zu gehen. Aber in dem engen Tunnel würde das wenig nutzen. Er war ein erstklassiges Ziel! Zu seiner Linken entdeckte er ein Fass und noch eines und noch eines … Was war das? Sie waren in einer Reihe hintereinander aufgestellt. An der Frontseite des vorderen Fasses entdeckte er ein Loch in einer Fassdaube. Das Holz am Rand des Lochs war nicht gesplittert. Er wollte an dem Fass rucken, um es sich näher anzusehen, aber es rührte sich nicht vom Fleck.
»Sie sind mit Abraum aus den Tunneln gefüllt«, rief Glamir hinter ihm. Im nächsten Augenblick hörte das Klicken der Winde auf. Eine der Armbrüste war gespannt.
Galar stellte sich vor, wie der alte Schmied jetzt den Bolzen auflegte und die Waffe ausrichtete. Kalter Schweiß rann ihm den Rücken hinab. Er verfluchte seinen Stolz. Er hätte nicht vor den Armbrüsten herumlaufen müssen. Wie schwer wäre es gewesen, irgendeine fadenscheinige Ausrede zu finden? Er blickte zurück. Glamir hatte kein zweites Licht entzündet und war nicht zu sehen.
Wieder war das Klicken einer Winde zu hören. Jetzt lud der Schmied also die zweite Waffe. Er würde zurückgehen, entschied Galar. Ganz langsam, ohne das geringste Anzeichen von Eile zu zeigen! Er zwang sich dazu zu schlendern, als ginge er über den großen Waffenmarkt, der früher immer zu Beginn des Winters in der Marmorhalle der Tiefen Stadt abgehalten worden war. Meisterschmiede von nah und fern hatten den Markt besucht und ihre besten Arbeiten feilgeboten. Galar erging sich ganz in seinen Erinnerungen.
»Stell die Lampe auf das vorderste der Fässer und bleib in einer Linie mit ihr, wenn du zurückkommst«, hallte Glamirs unfreundliche Stimme durch die Dunkelheit.
Was sollte das nun wieder? Galar stellte die Lampe ab, ganz Gefangener seines Wunsches, kein Feigling zu sein.
»Komm schon! Beeil dich! Ich bin ja selbst ohne Krücke noch schneller als du!«
Galar dachte nicht daran, sich hetzen zu lassen. Jetzt ging er erst recht langsam.
Das Klicken der zweiten Armbrust verstummte. Ein leises Knirschen erklang, als würde die schwere Waffe ausgerichtet. Ein zweites Licht flammte auf. Es gab also doch noch mehr Lampen. Deutlich erkannte Galar nun die Silhouette des Schmiedes, der an einem der Dreibeine lehnte. »Los, nimm die Beine in die Hand.«
Galar wurde noch etwas langsamer und störte sich nicht an den Flüchen, die folgten. Endlich erreichte er den Schmied.
»Geh zur linken Armbrust«, kommandierte der alte Schmied. »Ich habe sie einen Zoll weit zur Seite gerückt. Verändere bloß nicht die Ausrichtung! Alles ist perfekt vorbereitet. Du wirst dicht neben dem ersten Loch ins Fass treffen. Der rote Bolzen auf der Führungsschiene trägt eine Spitze aus Spinnenstahl, meiner hier eine normale. Und nun zieh den Auslöser. Du wirst das vorderste Fass treffen.«
Galar peilte über die Führungsschiene für den Bolzen. Deutlich konnte er die Öllampe auf dem ersten Fass sehen. Er verzichtete auf Fragen, wohl wissend, dass Glamir ohnehin nur antwortete, wenn es ihm in den Kram passte.
Surrend entspannte sich der Stahlbogen der Armbrust. Galar hörte den Bolzen einschlagen. Es folgte ein eigenartiges, lang anhaltendes Geräusch, das er nicht zuordnen konnte. Glamir schoss indessen auch seinen Bolzen ab. Er hatte nicht auf die Fässer gezielt. Galar hatte keine Ahnung, worauf sonst.
»Und nun wandern wir«, forderte der Schmied ihn gut gelaunt auf. Es war unübersehbar, wie sehr er seine Spielchen genoss. »Beide Bolzen waren exakt gleich schwer. Die Spannung der Waffen war gleich. Ihre Reichweite beträgt etwas mehr als zweihundertfünfzig Schritt.«
Der Schmied nahm die zweite Öllampe und hinkte auf seine Krücke gestützt los.
»Und?«, fragte Galar reichlich entnervt. »Was sagt mir das?«
»Nur die Ruhe, Junge. Noch zweihundertfünfzig Schritt, und die Antworten liegen buchstäblich vor dir.«
Galar griff sich unterwegs die Öllampe, die er auf dem Fass abgestellt hatte. Ihr Weg zog sich endlos, und der verfluchte Alte brachte die Zähne nicht mehr auseinander. Schließlich erreichten sie das Ende der Fassreihe.