Glamir fand seinen Bolzen. Er lag auf dem blanken Felsboden. Nervös schwenkte er seine Lampe hin und her. »Etwas Spiel gibt es immer«, murmelte er. »Das hat nichts zu bedeuten. Das … ah, da! Da ist er! Siehst du ihn dort vorne. Noch ein Stück voraus. Da liegt der rote Bolzen!«
Galar traute seinen Augen nicht. Die rote Farbe war fast vollständige abgeschliffen, die hölzernen Finnen, die den Flug stabilisieren sollten, waren ganz verschwunden. Galar hob den Bolzen auf und betrachtete ihn von allen Seiten.
»Es ist der, den du eben abgeschossen hast«, erklärte der Schmied triumphierend.
Das war unmöglich, dachte Galar. Er ging zurück zum letzten Fass. Die mittlere Daube war an zwei Stellen zersplittert.
»Er ging durch all die Fässer, Junge! Es ist so. Bist du dir darüber im Klaren, was das bedeutet?«
Galar drehte das Geschoss in den Händen. Auf dem metallenen Bolzenkopf zeigte sich keine Schramme. Vorsichtig tastete er über die Spitze. Obwohl er sie kaum berührt hatte, rann Blut seinen Finger hinab.
»Ist immer noch übel scharf, was? Sie durchdringen alles, Galar. Ich hab es dutzendfach versucht. Nichts hält sie auf. Und sie werden dabei nicht einmal langsamer. Sie fliegen genauso weit wie ein Bolzen, der einfach nur Luft zerteilt.« Mit jedem Wort wurde die Stimme des Alten schriller. »Du begreifst, was das bedeutet?«
»Das sind Drachentöterbolzen«, sagte Galar aufgewühlt. Hätten sie solche Pfeile bei der Verteidigung der Tiefen Stadt gehabt …
»Du kannst mit einer einfachen Armbrust ein Loch in das Hirn einer Himmelsschlange schießen. Damit holen wir die Götterdrachen vom Himmel! Du bist der erfahrene Drachenjäger, und ich liefere dir die Geschosse, Galar. Was du an Metall heraufgeholt hast, reicht für dreihundert Armbrustbolzen und mindestens dreißig Speerspitzen, falls wir auch Speerschleudern bauen wollen.«
Galar ließ den Bolzen fallen und schloss den Alten in die Arme. Er war den Tränen nahe. Er hatte nicht geglaubt, dass der Untergang der Tiefen Stadt jemals gerächt werden würde. »Gemeinsam werden wir die geflügelten Tyrannen vom Himmel fegen. Wir brauchen nur eine Gelegenheit, bei der sie alle an einem Ort versammelt sind und bei der wir in Waffen erscheinen, ohne dass sie etwas ahnen. Wir müssen uns ihnen als Söldner anbieten.« Galar konnte es förmlich vor sich sehen, wie die Himmelsschlangen von den Bolzen durchlöchert wurden, wie sie auf die Erde hinabstürzten, die dünnen Knochen in ihren Flügeln splitterten und sie im Todeskampf zuckten. »Wir werden unsere Toten rächen!«
Erinnerungen an eine verlorene Kindheit
»Wenn ich an meine Mutter zurückdenke, dann gibt es ein Bild, das mehr als alle anderen meine Erinnerungen beherrscht. Noch heute vermag ich sie mit zwei Fächern in der Abendsonne vor goldenen Felsen tanzen sehen, wenn ich die Augen schließe. Sie hatte dem Schwert abgeschworen, doch nicht dem Schwerttanz, den Gonvalon, mein Vater, sie einst gelehrt hatte. Voller Anmut waren ihre Bewegungen, und ich erschreckte mich jedes Mal, wenn sich mit lautem Geräusch die Fächer öffneten, auf die kunstvoll ein schwarzer Drache gemalt war.
Ganz gleich, was man über sie erzählt, sie hat den Dunklen niemals verraten. Und ebenso wenig Gonvalon. Ich weiß es, weil ich es in ihren Augen gelesen habe, wenn sie von meinem Vater erzählte. Von jenem halben Jahr, in dem sie glücklich gewesen waren. Als sie gemeinsam auf Sternauge und Nachtschwinge in den Himmel ritten und die verborgensten Winkel des Jadegartens erkundeten. Ihre Stimme veränderte sich, wann immer sie von dieser Zeit sprach. Sie verlor ihre Härte, ja, manchmal erschien es mir sogar, als würde sie dann jünger werden. Ich war damals ein Kind. Die Alben allein wissen, wie sehr meine Wünsche meine Erinnerungen färbten.
Wie oft sehne ich mich danach, ich könnte zurück in jene Tage, als die Welt noch geordnet war in Schwarz und Weiß. In der meine Mutter eine Streiterin des Lichts war und mein Vater ein Held, dessen Namen jeder Elf kannte. So sehr wünschte ich mir, dem Vater, dem ich nie begegnet war, nahezukommen, dass ich begann, seine wiedergeborene Seele zu suchen. Ich wollte das alte Leben in ihm erwecken und die Erinnerungen, die bei jeder Wiedergeburt tief begraben werden, ans Licht holen. Ich beschritt einen dunklen Weg, wollte aber doch nur Gutes. Ich wollte verstehen, warum ich so anders war. Hätte ich mich doch nur mit den Geschichten aus meiner Kindheit begnügt. Ich fand ihn. Ich zerstörte all meine Illusionen. Ich entzweite mich mit meiner Schwester, die ich doch liebe. Und ich ließ die Ungeheuer der Vergangenheit frei, die ins Dunkel zu sperren meine Mutter sich so sehr bemüht hatte …«
Die Rebellenarmee
Volodi hob den Bogen und legte auf das junge Reh an. Er war ein miserabler Schütze, doch er durfte nicht danebenschießen. Quetzalli schaffte es, jeden Tag mindestens eine Forelle zu fangen. Sie mussten keinen Hunger leiden, aber Volodi konnte keinen Fisch mehr sehen. Es war an der Zeit, dass ein ordentliches Stück Fleisch über das Feuer vor ihrer Laubhütte kam.
Nachdem er Alba getötet hatte, waren sie weit in die Wälder geflohen. Anfangs war es romantisch gewesen. Aber zu viele Forellen und der Dauerregen der letzten Tage hatten ihrem Abenteuer den Glanz genommen. Quetzalli fror, obwohl sie nachts beide Decken bekam und Volodi in seinen Kleidern schlief. Wie würde erst der Winter werden! Er musste dringend eine bessere Unterkunft als die Hütte aus verflochtenen Ästen bauen. Hätte er nur daran gedacht, eine Handaxt bei ihrer Flucht mitzunehmen! Und ein paar Schafsfelle für Quetzalli. Hätte, hätte, hätte … Sie würde eine Rehhaut bekommen!
Entschlossen hob er den Bogen, als irgendwo hinter ihm ein Pferd schnaubte. Der Kopf des äsenden Rehs schnellte hoch. Volodi schoss im selben Moment, als seine Beute mit einem weiten Satz im Schutz eines Tannendickichts verschwand.
Volodi fluchte stumm und duckte sich tiefer ins Gebüsch, in dem er stundenlang darauf gewartet hatte, dass sich ein Reh auf die Lichtung wagte. Ein Reiter in diesem Teil des Waldes konnte nichts Gutes bedeuten. Dieser Ort war zu abgelegen von allen Wegen. Hierher verirrte sich niemand zufällig. Wahrscheinlich war ein Preis auf seinen Kopf ausgesetzt. Behutsam legte er den Bogen auf den weichen Waldboden und zog sein Messer. Lieber vertraute er sein Leben einer Klinge an als seinen Fertigkeiten als Schütze.
Zwischen den Tannen erschien eine Schattengestalt, die ein Pferd am Zaum führte. Einen alten Roten mit durchgebogenem Rücken. Eine echte Schindmähre.
Die Schattengestalt hielt eine große Axt in der Linken. Volodi lächelte. Die Götter liebten ihn. Jetzt würde er Quetzalli ein Haus aus schweren Baumstämmen bauen können.
Geduckt bewegte er sich durchs Gebüsch und dann durch den hohen Farn auf der Lichtung. Der Fremde blieb im Schatten der Tannen. Wenn er in diese Richtung weiterging, würde er nach ein paar hundert Schritt auf ihren Lagerplatz stoßen.
Volodi fand einen morschen Ast. Entschlossen packte er ihn, schleuderte ihn quer über die Lichtung, wo er mit einigem Getöse in einem Brombeerdickicht verschwand.
Der Fremde blieb stehen und musterte misstrauisch das Gebüsch. Volodi schlug einen Bogen, sodass er in den Rücken dieses verfluchten Kopfgeldjägers gelangte. Fast hatte er den Mann erreicht, als der Rotfuchs schnaubte. Der verfluchte Gaul war aufmerksamer als sein Herr. Volodi stach ihm mit dem Dolch in die Hinterhand. Das Pferd keilte aus, machte einen Satz nach vorn und rammte den überraschten Axtträger, der zu Boden ging.