Ein fünfter Mann trat hinzu und durchmaß den Torraum. Er war hager wie der Tod, nicht sonderlich groß, aber mit einem prächtigen Bronzepanzer gewappnet, auf dem ein schön gearbeiteter Adler seine Flügel ausbreitete. Seine Haare waren schlohweiß, und er ging leicht gebeugt, seine Augen aber waren jung geblieben.
»Du also bist der verdammte Drusnier, der Alba abgestochen hat.«
Volodi hob stolz den Kopf. »War mir ein Vergnügen.«
Eine schallende Ohrfeige war die Antwort des Alten. »Leider habe ich Befehl, dich vor den Unsterblichen Ansur bringen zu lassen. Wenn es nach mir ginge, würde ich dich einfach hier am Turm aufknüpfen lassen. Dem Unsterblichen zu begegnen ist zu viel der Ehre für so ein Stück Dreck, wie du es bist.«
Volodi blickte aus den Augenwinkeln zu Fedor. Der Junge zitterte. Das hier war zu viel für ihn. Es wäre besser gewesen, Radik hätte ihn hierhergebracht. Der Rotschopf war zu dumm, um sich zu fürchten.
Der Kommandant des Lagers wandte sich an Fedor. »Zeig doch mal die beiden Schwerter, die du da auf dem Rücken trägst.«
Volodi hatte fest damit gerechnet, dass sie sich die Waffen ansehen würden. Der Alte stand nun genau vor Fedor, seine fackeltragenden Leibwächter hielten sich hinter ihm. Die beiden Torwachen standen seitlich von Volodi, ebenfalls begierig darauf, die kostbaren Eisenklingen zu sehen.
»Du willst den Jungen wohl ausrauben, statt ihn zu belohnen, Valesier. Du bringst den Kleinen um, und dann wirst du vor deinem Herrscher behaupten, du hättest mich gefangen, und Ruhm und Ehre dafür ernten. Ist es nicht so?«
Eine zweite Ohrfeige war die Antwort.
Volodi taumelte zurück und stürzte, dabei zog er die linke Hand aus der lose geknüpften Fessel. Fedor hatte eines der Schwerter gezogen, ganz wie der Alte es gewünscht hatte.
Gier funkelte in den Augen des Valesiers. »Gib mir das Schwert, Junge. Das ist die Waffe eines Feldherrn und nicht eines Ziegenhirten. Ich biete dir fünf Silberstücke für jede der Klingen. Ich bin kein Dieb. Das ist ein überaus großmütiges Angebot.«
»Die Schwerter sind das Hundertfache wert«, sagte Fedor und wich ein Stück zurück. Er hielt die Waffe nur mit zwei Fingern und hob sie ganz vorsichtig hoch, sodass niemand auf den Gedanken kommen konnte, er wolle angreifen. »Ich nehme an, das Angebot beinhaltet auch mein Leben und freien Abzug.«
»Schlauer Junge.« Der alte Valesier lächelte breit und griff nach der Börse an seinem Gürtel. »Du könntest einer meiner Steuereintreiber werden.«
Fedor warf Volodi das Schwert zu.
Volodi schnappte es noch im Flug, führte mit der breiten Seite einen Rückhandhieb gegen die Schläfe des Kommandanten und stach in fließender Bewegung einem der beiden Leibwächter durch die Kehle.
Der zweite Veteran versuchte, ihm die Fackel ins Gesicht zu rammen. Volodi duckte sich, Flammen griffen nach seinem Haar und verloschen sofort wieder im Regen. Aus der Hocke heraus stach er dem Angreifer in den Unterleib und trieb die Klinge weit hinauf in dessen Eingeweide. Sein Schwert saß zu tief im Körper des Sterbenden, um es schnell wieder freizubekommen. Er griff die Fackel, die dem Krieger aus der Hand gefallen war, und fuhr herum, gerade rechtzeitig, um einen Speerstoß eines der Torwächter abzublocken. Volodi, der noch immer geduckt war, unterlief die Speerspitze, schnellte hoch und rammte dem Angreifer die Fackel unter das Kinn. Sofort stand der Bart des Kriegers in hellen Flammen. Schreiend ließ er seinen Speer fallen und schlug auf das brennende Haar ein, als Volodi ihm in den Magen boxte.
Der Wächter klappte zusammen.
Der zweite Speerträger, jener, der Fedor gewarnt hatte, ließ seine Waffe fallen. »Ich bin Drusnier. Die haben mich in den Dienst gezwungen!«
Fedor starrte Volodi mit offenem Mund an. Der Junge hatte noch nicht einmal sein Schwert gezogen.
»Schafft die Männer unter den Torbogen«, befahl Volodi barsch. »Schnell!« Mit diesen Worten packte er den Alten, zerrte ihn ins Trockene und schlug ihm noch einmal vor den Kopf, damit er nicht vor der Zeit wieder zu sich kam.
»Was ist da unten los?« Ein Kopf erschien zwischen den Zinnen des Torturms. Es war zu dunkel, um im prasselnden Regen mehr als huschende Schatten zu erkennen. Der Kampf hatte kaum zehn Herzschläge gedauert und war fast lautlos gewesen. Fast … Volodi fluchte stumm. An die Turmbesatzung hatte er nicht gedacht, als er den Plan zum Überfall ausgeheckt hatte.
»Die haben sich diesen Volodi geschnappt und prügeln ihm die Scheiße aus dem Leib. Willst du runterkommen und mitmachen?«, rief der drusnische Torwächter geistesgegenwärtig.
»Du meinst, ich soll meinen Posten verlassen, wo der Alte danebensteht? Im Leben nicht, Schenja! Da wär ich ja gleich der Nächste, dem das Fell gegerbt wird.« Mit diesen Worten verschwand der Wachtposten hinter den Zinnen.
»Danke«, flüsterte Volodi und schaffte den zweiten Leibwächter unter den Torbogen außer Sicht.
Schenja packte seinen bewusstlosen Gefährten und brachte ihn ebenfalls unter das Tor. »Ihr müsst mich mitnehmen. Hier kann ich nicht mehr bleiben.«
»Willkommen in Fedors Heer.« Volodi drückte ihm die Hand und warf dem Jungen, der noch immer vor Entsetzen gelähmt war, einen spöttischen Blick zu. »Das ist anders als in den Heldensagen, wenn man plötzlich selbst Blut an den Händen hat.«
»Du … du hast vier Männer getötet.«
Volodi schüttelte den Kopf. »Nein, tot sind nur zwei.« Er stieß mit dem Fuß nach dem bewusstlosen Festungskommandanten. »Den hier nehmen wir mit. Für den werden wir ein hübsches Lösegeld bekommen. Und wenn nicht, können wir ihn ja immer noch an irgendeine Eiche hängen. Er mag das Hängen, hatte ich den Eindruck.«
Die Reiter kamen den Hügel hinabgeprescht. In der beginnenden Nacht waren sie mit ihren weiten Umhängen nicht mehr als fliegende Schatten.
»Es klappt!«, jubilierte Fedor. »Es klappt.«
»Man verteilt das Fell des Bären erst, wenn man ihn erlegt hat«, murmelte Volodi. Er blickte durch das Tor ins Lager. Das Wetter war auf ihrer Seite. Bei dem strömenden Regen hatte jeder, den sein Dienst nicht ins Freie zwang, Zuflucht in den Baracken gesucht. Auch hielt er die Wachfeuer klein und sorgte dafür, dass kaum ein Licht in der Dunkelheit flackerte.
Die Reiter erreichten das Tor. Sie hatten ihre Pferde gezügelt. Radik, der den Trupp anführte, winkte frech den Wachen oben auf dem Torturm zu. Dann führte er seinen Trupp im Schritt in die Festung hinein.
Der Wagen vom Hügel näherte sich ebenfalls dem Tor. Auf dem verschlammten Weg kam er nur quälend langsam voran. Volodi hob den Schild eines der toten Leibwächter auf und schob seinen Arm durch die Lederschlaufen. Dann zog er sein Schwert aus dem Toten.
Von den Pferchen hinter dem Tor war unruhiges Muhen zu hören. Radik und seine Männer hatten mit ihrer Arbeit begonnen.
Volodi schlug das schützende Horn. Gleich würde der Tanz losgehen. »Nimm dir den anderen Schild, Fedor«, flüsterte er. Nervös blickte er zu dem Karren. Es sah aus, als hätte er sich festgefahren. Die beiden Kutscher waren vom Bock gesprungen und machten sich an den großen Rädern zu schaffen. »Wenn es nicht so läuft wie geplant, werden wir vielleicht das Tor halten müssen, damit die anderen entkommen können.«
Fedor nahm sich den zweiten Schild und stellte sich an Volodis Seite. Er konnte den Jungen schwer atmen hören. Der Drusnier wusste nur zu gut, wie schwer es war, vor der Schlacht die Angst niederzuringen. In der Festung lagen über fünfhundert Krieger. Wenn Alarm gegeben wurde, dann gab es für die Männer in Fedors Heer, das gerade einmal dreiundzwanzig Köpfe zählte, keine Hoffnung, lebend zu entkommen.
»He, was macht ihr da unten?«, rief eine raue Stimme vom Wachturm.
Von den Pferchen kam keine Antwort. Volodi konnte nur huschende Schatten sehen. Dann plötzlich lief ein Rind an ihm vorbei.
Oben auf dem Turm erklang ein Horn. Volodi drehte sich nach dem Karren um. Er steckte noch immer fest. Wenn sie ihn nicht bewegt bekamen, waren sie alle tot! »Fedor, Schenja, helft, den Wagen wieder flottzumachen. Ich geh rein, ein wenig Unruhe stiften.«