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Mehr und mehr Rinder trotteten nun durch das Festungstor. Radik hatte den Befehl, so viele Pferche wie möglich zu öffnen und das Vieh davonzutreiben. Mit der Herde als Beute waren sie beweglicher als mit Karren oder zu schwer beladenen Maultieren.

Volodi stieß mit dem Schild eine große, gescheckte Kuh zur Seite und schob sich auf den weiten Hof der Festung. Das Vieh staute sich schon vor dem Tor. Die Tiere waren unruhig, keilten aus, und der Lärm nahm mit jedem Augenblick zu.

Vom Turm schallte das Wachhorn. »Alarm! Wir werden angegriffen.« Der strömende Regen dämpfte die Stimme des Türmers, aber lange würde es nicht mehr dauern, bis jemand in den Baracken merkte, was draußen geschah.

Volodi fand Radik in dem Gewimmel. »Hör auf!«, rief er dem jungen Krieger zu. »Nimm deine Männer, und sieh zu, dass ihr fortkommt!«

Immer mehr Rinder drängten sich vor dem Tor, als sich die Tür der vordersten Baracke öffnete. Ein matter Lichtstreifen vergoldete den Regenschleier vor dem Eingang, und ein schwarzbärtiger Krieger erschien in der Tür. »Was geht da vor?«, rief er mit volltönender Stimme.

»Das Wetter macht die Rinder verrückt!«Volodi ging ihm entgegen und winkte abwiegelnd. Er hoffte, dass der Krieger, vom Licht der Stube noch nachtblind, nicht genau sehen konnte, was geschah. »Die Viecher haben ein Gatter niedergetrampelt, aber wir treiben sie schon zurück. Ich hab keine Ahnung, was sich der Türmer denkt, so einen Lärm zu veranstalten.« Kaum waren die Worte über Volodis Lippen, erscholl erneut das Alarmhorn auf dem Turm.

Der Schwarzbart fluchte und griff neben der Tür nach seinem Umhang. »Ich werde den Türmer zum Schweigen bringen. Verdammter Idiot. Der versetzt noch die ganze Garnison in Unruhe.«

Bei zwei weiteren Baracken gingen die Türen auf. Mehrere Bewaffnete traten hinaus. Das war es, dachte Volodi. Jeden Moment würden sie merken, dass etwas nicht stimmte. Er blickte zurück. Viel konnte er auch nicht sehen.

Der Türmer rief etwas, doch seine Worte gingen im Rauschen des Regens unter. Wieder stieß er ins Horn. Immer mehr Barackentüren öffneten sich. Männer liefen ins Freie, um die Rinder einzufangen, die nun überall innerhalb der weiten Festungsanlage herumliefen. Noch glaubte niemand an einen Überfall, wie es schien. Die Männer stellten den Rindern nach. In ihrer Festung hinter Wall und Graben und nach all den Siegen, die sie über die Drusnier errungen hatten, hielten sie sich für unangreifbar.

Volodi zog sich eilig zum Tor zurück. Jetzt gab es ein Durchkommen, denn Radik und seine Männer scheuchten die Rinder, die sie nicht mitnehmen konnten, zwischen die Baracken in der Erdfestung. Der Stau vor dem Tor hatte sich aufgelöst. »Rückzug!«, rief Volodi leise und eilte von Reiter zu Reiter. »Rückzug!«

Die jungen Krieger hörten auf ihn. Immer und immer wieder hatte er ihnen in den letzten Tagen eingeschärft, dass Disziplin der Schlüssel zum Sieg war. Ohne zu murren, befolgten sie seine Befehle. Volodi rannte als Letzter in Richtung Tor, als hinter ihm der Lärm losging. Jemand hatte entdeckt, dass das Tor offen stand.

Schatten hasteten in seine Richtung.

Fedor und die Kutscher schoben den Karren in den Durchgang unter dem Turm. Volodi musste unter der Achse hindurchkriechen, um zu entkommen. Kaum hatte er das geschafft, sprang er auf und schlug mit dem Schwert auf das schmale Stück Achse ein, das zwischen Ladefläche und Rad zu sehen war.

Die Valesier warfen sich auf der anderen Seite des Tors gegen den Wagen.

»Zündet ihn an«, befahl Volodi und versetzte der Achse einen weiteren Hieb.

Auf der Ladefläche des Karrens stand ein Topf mit glühenden Kohlen. Volodi hörte das drohende Zischen von Öl, das in die Glut gegossen wurde.

Noch ein Hieb traf die Achse. Im selben Moment loderte eine gelbe Flamme auf und setzte die Plane des Karrens in Brand. Hitze griff nach Volodi. Ein letzter Schwerthieb. Die Achse splitterte, und der Wagen neigte sich zur Seite.

Das Feuer fand immer mehr Nahrung. Eilig zog Volodi sich zurück. Sie hatten alles mögliche Brennbare auf den Karren geladen: Speck, Reisigbündel, Lampenöl, ein kleines Fass mit Fischtran. Das Feuer blockierte nun den einzigen Weg aus der Festung der Valesier. Und wenn sie Glück hatten, würde auch noch der hölzerne Torturm in Brand geraten. Hoffentlich machten sie den Fehler, Eimer mit Wasser zu holen, um das brennende Fett zu löschen, dachte Volodi. Sie würden das Feuer damit nur noch mehr anfachen.

Fedor wartete mit einem Pferd vor dem Tor auf ihn. »Wir haben ihnen über fünfhundert Rinder gestohlen«, rief er begeistert gegen das Fauchen der Flammen. Der Platz vor dem Tor war in unstet tanzendes Licht getaucht. »Wir werden …«

Ein Pfeil schnitt ihm das Wort ab. Er war fast bis zur schwarzen Befiederung in seine Brust gedrungen. Volodi packte die Zügel von Fedors Pferd und zog es hinter sich her, fort von der Festung und dem Bogenschützen auf dem Torturm in die schützende Dunkelheit.

Erst als sie den Hügel erreichten, wagte Volodi anzuhalten. Fedor war nach vorn auf die Mähne seiner Stute gesackt. Der Drusnier stieg ab und hob den Jungen von seinem Pferd. Blut rann ihm von den Lippen. Der Pfeil hatte ihm die Lunge durchbohrt.

»Ich …«

»Nicht reden, du brauchst deine Kraft, um wieder gesund zu werden.«

Fedors Augen wurden so weit wie an dem Tag ihrer ersten Begegnung, als er in ihm seinen Helden erkannt hatte. »War das … ein großer Sieg?«, stieß er unter Schmerzen hervor.

»Man wird überall in Drusna von Fedor von Bärenfurt und seinen tapferen Recken sprechen, die die Valesier besiegten, ihnen ihre Beute wieder abjagten und sie in ihrer eigenen Festung eingesperrt haben.«

Fedors Augen starrten, ohne zu blinzeln, in den Regen. Er hörte Volodi nicht mehr.

Hinter ihnen brannte der Turm der Festung lichterloh.

»Du hast die Fackel zum Aufstand entzündet«, sagte Volodi mit rauer Stimme. »Sie wird überall in Drusna leuchten.«

Auf der Suche nach dem Meer

»Du malst wirklich die schönsten Götterbilder der Stadt, Meister Šutarna!« Begeistert schob der Erste Schreiber die Pergamentrolle in eine lederne Schutzhülle. Er war ein relativ junger Mann, bei dem das gute Leben im Tempel bereits Spuren zu hinterlassen begann. Seine Hüften waren füllig, und deutlich zeigte sich der Ansatz eines Doppelkinns. Ganz im Schwarz der Schreiber des Tempels gekleidet, wirkte er dennoch ehrfurchtgebietend. Aus einem roten Etui an seinem Gürtel ragten zwei goldene Griffel – das Zeichen seines Amtes als Erster Schreiber des Išta-Tempels.

»Das Bild der Geflügelten wird einen Ehrenplatz erhalten«, fuhr er begeistert fort.

Talawain verneigte sich. »Ihr schmeichelt meinen bescheidenen Gaben, Erster Schreiber. Ich bin nur die Hand, die den Pinsel hält; ich bin sicher, die Göttin selbst ließ Schönheit in das Werk fließen, wenn es Euch so sehr gefällt.«

»Du bist zu bescheiden, Šutarna. Es ist ein Gewinn für unsere Stadt, dass du dich hier niedergelassen hast.« Der Aufseher der Schreibstube des Išta-Tempels senkte seine Stimme. »Nur hat man dich schlecht beraten, dass du dich ausgerechnet neben dem Haus des Verfluchten niedergelassen hast. Hat dir denn niemand von den besonderen Todesumständen des Knochenschnitzers erzählt?«

»Ich hörte davon erst, nachdem ich das Haus gekauft hatte.«

Der Erste Schreiber gab ein keckerndes Geräusch von sich, das wohl Missbilligung ausdrücken sollte. »Ich hoffe, du hast keinen zu hohen Preis gezahlt. Die Läden in dieser Gasse gehen nicht mehr gut.«

»Ich fürchte, der Töpfer war ein besserer Geschäftsmann als ich.«

»Ein guter Töpfer war er jedenfalls nicht«, sagte sein Gegenüber stirnrunzelnd. »Es ist doch immer dasselbe mit euch Künstlern. Habt ihr wirklich Talent in eurem Fach, seid ihr in Geschäftsdingen arglos wie Kinder.«

»Ich fasse das als ein Kompliment auf«, sagte Talawain demütig.

»So ist es auch gemeint.« Er klopfte auf die Lederrolle. »Morgen früh werde ich dieses Bild im Priesterkollegium zeigen. Wir suchen noch nach einem Geschenk für den Unsterblichen Ansur, den Herrscher Valesias.«