»Wir müssen über einige Vorfälle im Lager sprechen. Ein Tölpel von Stallknecht hat die Pferde mit nassem Frühlingsklee gefüttert. Die Hälfte von ihnen hat nun Koliken. Du solltest sie sehen! Es ist ein Bild des Jammers. Sie werfen sich auf den Boden und winden sich vor Schmerzen, manche versuchen, sich in den Bauch zu treten. Wir werden auf viele der Streitwagen, die für die Parade morgen vorgesehen waren, verzichten müssen. Was soll mit dem Stallknecht geschehen? Er hat dem Ansehen Arams schweren Schaden zugefügt! Man sollte ihn in einen Sack einnähen und unten in den Fluss werfen.«
Artax seufzte. Er stimmte nur sehr selten einem Todesurteil zu. »Was ist mit den Stallmeistern? Trifft sie nicht auch ein Teil der Schuld? Warum haben sie nicht besser achtgegeben, welches Futter die Pferde bekommen?«
»Sie haben auch Fehler gemacht«, räumte Mataan ein. »Welche Strafen siehst du vor?«
»Sind sie nicht schon genug damit gestraft, sich um die kranken Pferde kümmern zu müssen?«
Mataan rollte mit den Augen. »So geht das nicht! Fehler zu machen muss Konsequenzen haben, sonst gibt sich keiner mehr Mühe.«
»Aber ist es nicht besser, Erfolge zu belohnen, statt Fehler zu bestrafen.« Sie hatten schon oft über dieses Thema gestritten. Mataan hatte die Tendenz, eher zu bestrafen als zu belohnen. Vielleicht, weil er sich seit seiner schweren Verwundung selbst bestraft fühlte.
Ein Streitwagen, auf dessen Front ein großer, goldener Adler mit ausgebreiteten Schwingen prangte, näherte sich. Das musste Ansur von Valesia, ihr Gastgeber, sein. Artax hatte ihn darum gebeten, mit ihm in die Weiße Stadt zu fahren, um sich den Ort anzusehen, an dem sich morgen die Unsterblichen versammeln würden. Bislang hatte der Herrscher seine Gäste noch nicht in die neue Stadt gelassen und sich damit herausgeredet, dass noch letzte Arbeiten vollendet werden mussten.
Artax wusste, dass Langarm, der Götterschmied, gekommen war, um selbst den Saal vorzubereiten, in dem sich die Unsterblichen versammeln würden. Artax wollte wissen, was ihn erwartete. Von Geheimniskrämerei hielt er nicht viel.
Er wandte sich noch einmal Mataan zu. »Der Stallbursche bekommt zehn Rutenschläge auf die Fußsohlen und jeder der Stallmeister fünf, weil sie ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen sind. Sollte sich dieser Fehler wiederholen, wird einer von ihnen in die Löwengrube im Palast von Akšu geworfen.« Er meinte das nicht ganz ernst. Seit er Herrscher war, hatte es keine Hinrichtungen dieser Art mehr gegeben. Nur einen Unglücksfall – als die Haremsdame Aya Selbstmord beging, indem sie in die Löwengrube sprang. Die Erinnerung an ihren Tod stimmte Artax traurig. Aya war eine der drei Haremsdamen gewesen, die in seiner ersten Nacht als Unsterblicher bei ihm geweilt hatten. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, danach zu einer seiner Favoritinnen aufzusteigen. Doch er hatte sie zurückgewiesen und fühlte sich seither an ihrem Tod mitschuldig.
»Ihr seid zu milde, Erhabener«, murmelte Mataan ärgerlich. »Ohne Strafen löst sich jede Ordnung auf. Ihr werdet es sehen.«
»Ich werde über deine Vorwürfe nachdenken, Mataan. Lass nun bitte die Strafen vollstrecken, über die wir beraten haben.« Artax winkte nach dem Streitwagen, den er hatte anschirren lassen, und stieg auf.
Soweit er wusste, erwartete ihn eine enge Straße, die aus einer Steilwand herausgeschlagen worden war. Er nahm die kurze Peitsche, die seitlich des Wagens im Pfeilköcher steckte, und ließ sie über die Köpfe der beiden Schimmel knallen. Ruckend setzte sich der Streitwagen in Bewegung. Er war froh, ein paar Stunden dem Lager am Fluss zu entkommen. Noch waren die Herrscher der sieben Großreiche weit davon entfernt, Gemeinsamkeiten zu schaffen. Vielmehr war das Zeltlager ein Ort, an dem Intrigen und Verrat besser gediehen als neue Freundschaften.
Die Liebe des letzten Tages
Gonvalon musste sich beherrschen, sie nicht immerzu anzusehen. Sie war so schön, selbst in diesen abgerissenen Kleidern. Ihre Art, sich zu bewegen, ihre katzenhafte Anmut, das leichte, fast spöttische Lächeln, das immer um ihre Lippen spielte. Er kannte sie so gut. Einen Herzschlag, bevor sie es tat, wusste er, dass sie den Kopf in den Nacken werfen würde, um ihre widerspenstigen Haare aus dem Gesicht zu bekommen. Sie sollte sie flechten, ein Stirnband tragen oder sie vielleicht auch abschneiden. Sie tat nichts von alledem. Sie liebte ihr langes Haar, in dem der Wind spielte. Und sie ließ sich von nichts und niemandem in ihrem Leben Fesseln auferlegen. Das galt auch für ihre Haare.
»Warum siehst du mich so an?«
Er wusste, dass keine Ausrede gelten würde. Trotzdem deutete er an ihr vorbei auf einen großen, von Säulen getragenen Bau. »Sieht interessant aus, nicht wahr? Was das wohl sein mag? Noch ein Tempel?«
»Du schaust gar nicht dorthin. Du siehst mich an.«
Er lächelte ganz offen, entschlossen, den Augenblick zu genießen. »Ja«, gestand er. »Im Grunde interessieren mich all diese Paläste und Tempel nicht. Das einzig wirklich Schöne hier bist du. Ich könnte dich immerzu ansehen, bis ans Ende meiner Tage.«
»Ich merke mir das!« Der Schalk funkelte in ihren Augen. »In einem Jahrhundert oder zwei werde ich dich noch einmal darauf ansprechen. Du solltest schon mal anfangen, dir zu überlegen, was du dann sagst.«
»Das muss ich nicht«, entgegnete er und hätte sich am liebsten auf die Lippen gebissen. Was redete er da! Sie durfte nichts merken! Seit der Dunkle ihn drei Tage vor ihrer Abreise zu sich bestellt hatte, um ihm zu sagen, was geschehen würde, verstellte er sich. Gonvalon gab sich so unbeschwert, wie er konnte, versuchte jeden Augenblick zu genießen und wusste doch, dass bald schon das letzte Sandkorn durch die Enge des Stundenglases fallen würde. »Ich muss nicht darüber nachdenken, weil ich es weiß. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass meine Liebe dir unverbrüchlich bis zum Ende meiner Tage gehören wird.«
Gonvalon spürte, dass sie etwas zu merken begann. Ihr Blick änderte sich, wurde fragender.
»Du machst dir Sorgen wegen dem, was wir sind, Gonvalon? Weil es unser Geschäft ist, mit dem Tod zu tanzen? Du glaubst nicht, dass wir beide in zweihundert Jahren noch leben werden.«
»Ich lebe jeden Tag mit dir, als sei es mein letzter.« Er blickte zum Himmel hinauf. Sie hatten lange gebraucht, um in das Tal hinabzusteigen. Die Mittagsstunde war längst vorüber. Morgen um diese Zeit … Er schob den Gedanken von sich.
Nandalee sah ihn betroffen an. »Warum so düster?«
»Aber das bin ich doch gar nicht. Du bist nur gerade meinem geheimen Rezept auf die Spur gekommen, wie ich der Liebe Unsterblichkeit verleihe. Sie kennt kein Morgen. Lebt von Augenblick zu Augenblick. Ist sich in sich selbst genug und trägt weder die Bürden der Vergangenheit noch der Zukunft. Es ist die Liebe des letzten Tages. Sie ist von so besonderer Süße, wie die letzten Trauben, die im Jahr geerntet werden.«
Nandalee schüttelte den Kopf. »Und von besonderer Melancholie. So kann Liebe nicht leben. Du wirst damit aufhören! Verstanden? Ab morgen gelten andere Regeln!«
Gonvalon legte feierlich die Hand aufs Herz. »Versprochen, meine Schöne.« Er war erleichtert, dass die Lügen endlich ein Ende haben würden.
Ein Horn erklang hinter ihnen. Reiter preschten die breite Prachtstraße entlang und vertrieben die wenigen Schaulustigen. Gonvalon zog Nandalee zur Seite. »Lass uns gehen«, flüsterte er. Doch Nandalee schüttelte den Kopf. Manchmal war sie zu neugierig! Es wäre klüger gewesen, erst nach der Dämmerung zu kommen, wenn selbst das Weiße Selinunt in Schatten versank und sie weniger Aufsehen erregt hätten. Aber er hatte Nandalees Drängen nicht widerstehen können. Welche Gefahr lauerte hier schon? Doch allenfalls die, als zu schlecht gekleideter Pöbel aus der Stadt geworfen zu werden.
Es war schwer gewesen, sich hier einzuschleichen, doch einmal in der Stadt, beachtete sie niemand mehr. Überall wurden allerletzte Arbeiten ausgeführt, Blumengirlanden aufgehängt oder kleinere Reparaturen durchgeführt. Keiner nahm von den beiden blonden Jägern Notiz, die durch die Stadt schlenderten. Obwohl die Wege in die Stadt scharf bewacht gewesen waren, gab es in Selinunt selbst kaum Krieger.