Sie traf ihn dicht unter dem Halsansatz in die Brust. Der Grauhaarige torkelte zurück, ließ das Geisterschwert fallen und griff nach dem Dolch. Inzwischen war Ashot wieder auf den Beinen. Er sprang den Alten an und riss ihn zu Boden. Immer mehr von Artax’ Kriegern befanden sich nun auf dem Hof. Einige öffneten das Burgtor im Turm und schafften das fehlende Brückenstück hinaus. Jubelrufe begrüßten sie vom Bergpfad.
Artax wurde aufgeholfen, und Ormu drückte ihm einen zersplitterten Speer als Krücke in die Hand. Unter Schmerzen wankte er auf die Seitentür unter dem Torbogen zu und rief: »Bessos, du hast verloren! Zeige dich!«
Nur Augenblicke später trat Bessos mit erhobenen Händen aus der Tür heraus. »Ich ergebe mich deiner Gnade, Unsterblicher Aaron. Ich wurde dazu verführt, mich gegen dich aufzulehnen«, rief er in weinerlichem Ton. »Ich vertraue deiner Gnade und gebe mich …« Ein Wurfspeer traf den Satrapen in die Brust und nagelte ihn an die Tür.
»Verrecke, Verräter«, rief Ormu. Bevor Artax ihn daran hindern konnte, hatte der hagere Jäger einen zweiten Wurfspeer aufgehoben und ging dem sterbenden Satrapen entgegen. »Deinetwegen sind viele mutige Männer gestorben. Männer, die Garagum Ehre bereitet hätten. Du wirst nicht auf den Mulawa getragen werden, um auf der Tafel des Himmels zu liegen, damit dein Fleisch die Adler speist. Ich werde deinen Leichnam in Stücke hacken und an die Wölfe in den Bergwäldern verfüttern.«
»Genug!« Artax griff nach dem Arm des Jägers. »Wir haben gesiegt. Das Sterben soll ein Ende haben.« Dann humpelte er zu Mataan zurück und kniete neben seinem Gefährten nieder. Die Augenlider des Fischerfürsten flatterten. Er war leichenblass.
»Halt durch. Das wird dich nicht umbringen. Hörst du? Ich befehle dir …«
Mataan lächelte matt. Seine Lippen bebten, als er zu sprechen versuchte. Artax beugte sich vor, um die geflüsterten Worte verstehen zu können.
»Es war eine lange Reise von Kyrna nach Kush …«
»Und wir werden noch viel weiter zusammen gehen.« Das durfte nicht sein. Artax griff nach der Hand seines Freundes und drückte sie fest. Er durfte nicht noch einen Weggefährten verlieren! Wir werden …«
»Priestermörder!« Die Stimme war nicht sehr laut und doch befehlsgewohnt. Eine Stimme, die alle auf dem Hof der Burg schweigen ließ. Ein alter Mann trat durch die Tür, an die der Leichnam des Bessos genagelt war. Langes, weißes Haar fiel ihm bis über die Schultern. Sein üppiger Bart war mit Blutspritzern besudelt. Er hielt einen Dolch in Händen. Die Klinge umklammert, den Griff vorgestreckt, als Zeichen, dass er sich ergeben wollte.
»Ich bin Eleasar, der Satrap und Hohepriester von Nari. Der Vater von Barnaba, der ein Vertrauter des Hohepriesters Abir Ataš war, den du foltern und töten ließest. Mein Sohn wurde von deinen Schlächtern gehetzt wie ein tollwütiger Hund und liegt nun irgendwo in einem namenlosen Grab.« Während er sprach, kam der alte Mann näher. Alle Blicke hatten sich auf ihn gerichtet. Immer noch war es totenstill auf dem Burghof.
Artax ließ die Hand Mataans los und stemmte sich mit Hilfe des zersplitterten Speerschaftes hoch. Ein Schmerz, der ihm Tränen in die Augen trieb, fuhr durch sein verletztes Bein. Aber er wollte nicht vor dem Alten knien, dessen Zunge Gift spritzte.
»Ich verfluche dich, Mörder. Aaron mit den blutigen Händen. Möge ein grausamer Tod all jene ereilen, die dein Herz erfreuen.«
»Schweig!«, fuhr Artax ihn aufgebracht an. »Wie kannst du es wagen!«
Eleasar war nur noch drei Schritt entfernt. Er hielt ihm das Messer hin. »Bring mich zum Schweigen, so wie du es mit allen tust, die dir im Wege stehen, Aaron mit den blutigen Händen. Nur tu es diesmal selbst, und schicke nicht deine Lakaien.«
»Der Alte ist verrückt«, rief Artax, um den Beleidigungen Eleasars etwas entgegenzuhalten.
Eleasar stand nun unmittelbar vor ihm. »Komm, nimm das Messer, oder fürchtest du dich vor einem Greis?«
Artax packte nach dem Griff der Waffe und zog daran, um sie dem Satrapen aus den Händen zu reißen. Doch die drahtigen Finger Eleasars hielten die Klinge fest umklammert. Erst im letzten Augenblick, in dem er Artax entgegenstürzte, ließ Eleasar die Waffe los. Mit einem schrecklichen Geräusch bohrte sich der Dolch unter dem Rippenbogen in den ausgezehrten Leib des Satrapen von Nari.
»Greisenmörder!«, schrie er mit erstaunlich lauter Stimme, wobei seine kalten, grauen Augen Artax gefangen hielten. Der Unsterbliche glaubte, Triumph in dem brechenden Blick zu lesen. »Dich kann ich nicht töten, aber deinen Ruf …«, hauchte Eleasar mit seinem letzten Atemzug.
Artax ließ den Toten zu Boden sinken und starrte fassungslos auf den Fanatiker herab. Dann schüttelte er den Kopf. Er verstand nicht, was gerade geschehen war. Aufgewühlt wandte er sich wieder Mataan zu: »Halte durch, mein Freund. Ich lasse unsere besten Wundärzte aus dem Lager am Adlerpass holen.« Er kniete sich neben seinen Kameraden. »Halt durch!«, beschwor er ihn noch einmal. »Ich werde bei dir in diesem verfluchten Felsennest bleiben, bis du wieder reisen kannst. Unser gemeinsamer Weg endet hier noch nicht.«
Der Fischerfürst lächelte matt. Seine Lippen hatten alle Farbe verloren. Er starrte hinauf in den Abendhimmel, der sich im Westen noch mit fürstlichem Purpur schmückte, während über den Bergen im Osten die Nacht ihre dunklen Schwingen breitete.
»Unsterblicher!« Ashot kam über den Burghof gerannt. »Herr …«
Er beugte sich zu ihm hinab. »Ihr müsst kommen, Herr. Unten, bei den Zisternen.« Sein alter Freund sah müde und ausgezehrt aus. Dichte Stoppeln sprossen auf seinen Wangen. Er roch nach Schweiß und Leder. »Herr …« In seinen Augen nistete etwas, das Artax dort noch nie bemerkt hatte. Es schien, als habe der Wahn Elesasars auch ihn ergriffen.
»Kommt mit mir, Herr. Schnell. In die Zisternen … Ihr müsst sehen, was der irre Alte befohlen hat. Es ist …« Nun standen Tränen in Ashots Augen. »Es ist vor nicht einmal einer Stunde geschehen. Wie kann man nur so etwas tun?«
Der gerade Weg
Ashot war immer der Überzeugung gewesen, dass sein Herz an dem Morgen zu einem harten, grauen Stein geworden war, an dem er seinen Vater, von eigener Hand gerichtet, an einem Strick an der Zeder neben dem Dorfbrunnen hatte hängen sehen. Er hatte sich geirrt. Das unstet flackernde Licht einer einzelnen Fackel entriss der Dunkelheit tief in den Eingeweiden des Burgfelsens ein Bild des Grauens. Mit dem Unsterblichen und drei weiteren Kriegern war er zu den Zisternen und Vorratskammern hinabgestiegen. Aaron stand direkt unter ihm auf der steilen Leiter und schwenkte stumm seine Fackel in weitem Bogen.
Der Boden der Felskammer war so dicht mit Leichen bedeckt, dass man keinen Schritt tun könnte, ohne auf Tote zu treten. Es waren ausnahmslos Kinder und junge Frauen. Ihre Gesichter waren von Schmerz verzerrt, ihre Körper zusammengekrümmt, als hätten sie Krämpfe gelitten. Viele hielten einfache Becher aus rotem Ton umklammert. Es war nur eine kleine, kaum zehn Schritt durchmessende unregelmäßige Felskammer, und es lagen mindestens fünfzig Tote hier. Nie, nicht einmal auf dem Schlachtfeld von Kush, war Ashot der Tod so greifbar erschienen. Er hatte sich hier eingenistet, war in der Luft, die sie atmeten, haftete allem an, das sie berührten. Und er spürte das Böse. Den verruchten Geist, der dieses Massaker ersonnen hatte.
Früher hatte er das immer für eine abstrakte Moralvorstellung gehalten. Jetzt wusste er, es gab das Böse wirklich. Es hatte von Eleasar Besitz ergriffen gehabt! Gut, dass der verbitterte, alte Satrap tot war. Aber Ashot ahnte, dass das Böse damit nicht vernichtet war. Es war noch hier, ganz nah.
Aaron schwenkte die Fackel nicht mehr. Direkt unter der Leiter lag ein kleines Mädchen mit dunklem Haar, die Ashot aus geweiteten, grauen Augen geradewegs anzublicken schien. Sie hielt eine blutgetränkte Puppe aus Lumpen an die Brust gepresst. Ihre Kehle war durchtrennt.
Ashot musste den Blick abwenden. Warum hatte Eleasar einen solchen Befehl gegeben? Warum waren sie überhaupt hier? Was hatte die Satrapen veranlasst, Frauen und Kinder statt Kriegern in diese einsame Festung zu holen? Er drehte sich zu den Männern um, die über ihm an der Luke für die Leiter standen. »Geht hinauf auf den Hof! Und redet nicht über das, was ihr hier gesehen habt. Diese Kammer ist erfüllt von Geistern … Wenn wir reden, dann werden wir sie mit uns nehmen.«