Ashot sah, dass er den Männern mit seinen Worten über die Geister Furcht eingejagt hatte.
Obwohl er selbst bis eben nicht an ihre Existenz geglaubt hatte, war er sich nun nicht mehr sicher. Durch die ruchlose Tat war ein dunkler Samen gesät worden, aus dem noch mehr Übel erwachsen würde. Er wusste intuitiv, was hier geschehen war, durfte nicht weitererzählt werden!
Ashot dachte wieder an den verbitterten, alten Mann und daran, wie er sich in den Dolch gestürzt hatte, den er dem Unsterblichen entgegengestreckt hatte. Wie leicht wäre es, darin einen Dolchstoß Aarons zu sehen. Die Hälfte der Männer, die hinauf in die Festung geklettert waren, stammte aus den Bergen. Es waren harte, einfache Männer. Sie würden nicht über einen heimtückischen Alten berichten. Dass der Unsterbliche Aaron den Verräter mit eigener Hand gerichtet hatte, war die bessere Geschichte. Aber das hier unten … Das ergab nur einen Sinn, wenn Eleasar Aaron mit diesen Morden schaden wollte. Also war es besser, wenn ihre Begleiter verschwiegen, was sie hier gesehen hatten.
Ashot sah den dreien nach, als sie sich auf den Rückweg machten. Hoffentlich war ihre Furcht vor Geistern größer als ihr Bedürfnis zu reden.
»Gift.« Aaron schwenkte wieder die Fackel, als wolle er jedem einzelnen Toten ins Antlitz sehen. »Sie haben ihnen Gift zu trinken gegeben. Und sie wussten nicht, was sie tranken. Als das Sterben begann, haben einige versucht, hierher zur Leiter zu fliehen … und wurden niedergestochen.« Der Unsterbliche sprach mit leiser, tonloser Stimme.
Ashot hatte das Gefühl, dass Aaron nur zu sich allein sprach. Vielleicht wurde das Ungeheuerliche, das Eleasar getan hatte, für den Herrscher verständlicher, wenn aus Gedanken gesprochene Worte wurden.
»Herr, steigt nicht hinab in dieses Grab.« Es fiel Ashot schwer zu sprechen. Wieder haftete sein Blick auf dem Mädchen, das im Tod seine Puppe an sich gedrückt hatte. Vielleicht waren ja wirklich Geister hier? Er schluckte. »Wir sollten das Gewölbe verschließen. Lassen wir die Toten ruhen.«
Der Unsterbliche sah zu ihm auf. »Hier lassen? Ohne Würde? So übereinanderliegend? Ohne einen Priester, der ihre Seelen mit Gebeten hinüber in den großen Schatten geleitet? Ich begreife nicht, was Eleasar hier getan hat. Nur eins sehe ich ganz klar: Ihr Tod hat mit uns zu tun.«
Und da begriff Ashot, welch perfide Absicht hinter den Morden bestand. Eleasar war nicht allein Satrap. Er war auch Hohepriester gewesen. Er wusste, welche Rituale eine würdige Totenfeier verlangten. Wusste, dass der Unsterbliche die Leichen nicht einfach liegen lassen konnte.
Es war eine Sache, nach einer Schlacht die Leichen von Kriegern zu verbrennen oder in Massengräber zu werfen. Aber Kindern ihr Totenfest zu verweigern … Sie einfach hier zurückzulassen … Ashot begriff, dass Aaron das niemals tun würde. Und Eleasar hatte das auch gewusst. Aber vor allem hatte der durchtriebene Alte gewusst, was daraus folgen würde. Da die Festung in den Fels geschlagen und der Boden blanker Stein war, würden sie die Toten hinunter zum Adlerpass tragen müssen, um sie zu bestatten. Und dort würden Hunderte von Kriegern, die alle hier oben nicht dabei gewesen waren, Zeugen dieser Prozession werden. Männer, die gesehen hatten, dass der Unsterbliche wie rasend vor Zorn gewesen war und diese Festung um jeden Preis nehmen wollte. Was würden sie denken?
»Ihr müsst sie zurücklassen, Herr.«
Der Unsterbliche blickte zu ihm auf, und kalter Zorn lag in seinen Augen. »Hier? Sollen wir Handlanger von Eleasar werden? So herzlos wie er?«
Ashot zwang sich, dem Blick standzuhalten. »Wir werden zu seinen Handlangern, wenn wir die Toten hinab zum Pass bringen. Das war es, was er wollte. Er kannte Euch gut, Herr«, erklärte Ashot. »Er wollte Euch schaden. Bitte macht es ihm nicht so leicht.« Doch Aaron schüttelte nur den Kopf.
»Wir werden sie würdig bestatten!«
Es lag eine Endgültigkeit in der Stimme des Herrschers, die aus Jahrhunderten des Befehlens geboren war. Ashot wagte es nicht mehr aufzubegehren. Auch vermochte er den Blick des Unsterblichen nicht länger zu ertragen. Er sah nach unten und war wieder von den toten, grauen Augen des Mädchens gefangen.
»Eleasar hat gewonnen, wenn Ihr sie den Berg hinabbringt. Man wird glauben, wir hätten sie ermordet. Man wird Euch einen Mörder nennen. Euer Name …«
»Eleasar hätte auch gesiegt, wenn ich es nicht täte.« Die Härte war aus Aarons Stimme gewichen. Jetzt klang er nur noch müde und traurig. »So bin ich nicht. Keine Barmherzigkeit mehr zu kennen, das … So will ich nicht sein! Eher ertrage ich, dass Lügen über mich erzählt werden. Für mich gibt es nur einen Weg, den geraden. Kompromisse sind wie ein Labyrinth. Lässt man sich auf sie ein, wird man sich in ihnen verirren. Ich werde aus dieser Welt einen besseren Ort machen, bevor ich gehe. Wirst du auf diesem Weg an meiner Seite bleiben, Ashot, mein Freund?«
Plötzlich kam ihm die Stimme des Unsterblichen seltsam vertraut vor, als spräche über den Abgrund der Jahre Artax zu ihm, der vor langer Zeit nach Nangog gegangen war. Ashot hatte ihn damals begleiten wollen, doch sein Vater hatte es ihm ausgeredet. Er hatte ihm helfen sollen, eine Schweinezucht aufzubauen, die sie zu den reichsten Bauern Belbeks machen sollte. Und er, Ashot, hatte seine Träume und seine Freundschaft diesen Schweinen geopfert, die bald allesamt verreckt waren. Seine Eltern waren gestorben. Sein Freund Narek auf der Hochebene von Kush gefallen. Und er war zum Befehlshaber der Leibwache des Unsterblichen aufgestiegen.
Wohin ihn das Schicksal wohl getrieben hätte, wäre er damals mit Artax gegangen? Auch sein Jugendfreund war ein Weltverbesserer und Träumer gewesen. Er hätte keinen Herzschlag mit seiner Antwort an den Unsterblichen gezögert.
Ashot wandte den Blick von dem toten Mädchen ab. Er spürte einen Kloß im Hals, als wollten ihn all seine traurigen Erinnerungen ersticken. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und blickte in die traurigen Augen des Unsterblichen, und einen Atemzug lang hatte er das absurde Gefühl, es sei Artax, der ihn ansah. »Ich werde mit Euch gehen, Herr, solange Ihr den geraden Weg geht.« Ashot lächelte. »Ich hatte einmal einen Freund, der Euch bewundert hätte.«
Zarah
Kolja sah auf die steile Straße hinab, die zum Haus der Seidenen führte. Die Hure ließ sich in einer prächtigen Sänfte tragen, als sei sie eine Fürstin. Er musste schmunzeln. Solche Auftritte machten sicherlich einen Teil ihres Erfolges aus. Fast war er geneigt, ihr zu vergeben, dass sie ihn am Vortag auf dem Blumenhof der Villa des Datames wie einen Narren hatte aussehen lassen. Fast. Ihre Strafe würde milde ausfallen.
Verwundert betrachtete er das seltsame Gefolge, das hinter der Sänfte schritt. Fünf abgerissene Gestalten, die aussahen, als seien sie gerade erst aus der Wildnis zurückgekehrt. Was hatte Zarah mit solchen Leuten zu schaffen? Woher kamen sie? Für einen drückend schwülen Abend waren sie viel zu warm angezogen. Alle trugen sie lange Kapuzenmäntel. Sie bewegten sich mit einer katzenhaften Anmut, die Kolja an die Jaguarmänner der Zapote denken ließ.
Ganz gleich, wen die Seidene dort anschleppte, heute ging es allein darum, sie gefügig zu machen. Sie sollte begreifen, dass unter seiner Führung ein anderer Wind wehte. Er würde sie sich unterwerfen, und er war gut vorbereitet! Der Drusnier trat vom Fenster zurück, durchquerte das kleine Zimmer mit der schmalen Pritsche, das einer der vielen Dienerinnen der Seidenen gehören musste, und stellte sich an die Tür. Von hier aus konnte er den gesamten Innenhof überblicken.
Seine Männer waren diskret aufgestellt. Sie hatten Befehl, nicht einzugreifen, es sei denn, einer der Diener der Seidenen versuchte, seine Herrin zu warnen.