Nodon schob seinen Teller von sich. »Ganz gleich, was aus den Sieben geworden ist, wir wissen, es waren schon andere Drachenelfen hier, und sie sind auf ihrer Mission zu Grunde gegangen. Bevor wir in den Krater hinabsteigen, sollten wir herausfinden, was uns dort erwartet. Hat einer von euch eine Vorstellung, wie?«
»Folgen wir der Spur der Worte«, sagte Lyvianne nachdenklich. »Auch die Menschen lieben gute Geschichten. Sie nennen uns Daimonen und fürchten uns. Wenn einige unserer Brüder und Schwestern hier starben, dann wird eine Geschichte zurückgeblieben sein. Vielleicht auf einer der Stelen niedergeschrieben, die sich ihre Könige errichtet haben, oder verborgen in einem Palast- oder Tempelarchiv.«
»Oder in einer Bibliothek«, schlug Bidayn vor.
Lyvianne schüttelte den Kopf. »Nein, mein Liebe. Bibliotheken kennen die Menschenkinder nicht. Nicht einer von hundert vermag zu lesen. Und die wenigen, die schreiben, nutzen diese Gabe nur, um endlose Warenlisten anzufertigen. Tempel und Paläste sind die einzigen Orte, an denen Schriften niedergelegt werden. Und auch dort werden wir vor allem eines finden: langweilige Zahlen. Eine ermüdende Suche steht uns bevor.«
»Vielleicht gibt es wandernde Sänger, die in Liedern und Heldenepen das Wissen um die Vergangenheit bewahren. Die Trolle machen es so«, sagte Nandalee.
Lyvianne musste lachen. »Ja, die Menschenkinder mit Trollen zu vergleichen trifft es ganz gut.«
Bis in die frühen Morgenstunden beratschlagten sie, wer an welcher Stelle mit der Suche nach den Geheimnissen des Weltenmunds beginnen sollte. Lyvianne hörte zu und sagte nur noch wenig. Für sich hatte sie längst entschieden, wohin ihr erster Weg sie führen sollte. Sie wollte den Geheimnissen der Seidenen nachspüren und jenen Vorratsschrank suchen, der den Eingang zu einem Tunnel in ihrem Keller verbarg.
Auch Lyvianne war davon überzeugt, dass Zarah noch lange nicht ihre ganze Geschichte erzählt hatte.
Herrscher aller Schwarzköpfe
»Ich, Aaron, Unsterblicher von Aram, Herrscher aller Schwarzköpfe, ging im Jahr der Schlange nach Kush und schlug dort die Heerscharen Luwiens. Ich schritt über tausend tote Feinde, und die Überlebenden flohen vor dem Zeichen des Löwen. Muwatta aber zwang ich im Duell nieder, und so groß war seine Schande, dass Išta seinen Kopf nahm, denn er hatte ihrem Volk Schande gebracht. Doch da erhob sich Bessos, und ihm folgte der schändliche Eleasar von Nari. Ich schlug sie am Pass der Adler und stürmte ihre Burg über den Wolken. Und keinem der Verräter gewährte ich Gnade. Ihre Frauen und Kinder aber ließ ich ziehen. Und ich verschenkte Land in allen vier Winden an die Bauern, die mir gefolgt waren. Und Gerechtigkeit zog ein in das Land Aram. Die Köpfe des Bessos und des Eleasar ließ ich legen in das Salz der Weißen Wüste, und sie wurden getragen zu jedem Palast in Aram, auf dass die Satrapen sehen mochten, was jene erwartete, die meinem Worte widersprechen. In Akšu aber feierte ich ein Fest, das da währte sieben Tage und sieben Nächte, und ich beschenkte jene, die mit mir gestritten hatten, so reich, dass ein jeder wie ein Fürst heimkehrte.
Denn ich bin Aaron, Erster unter den Unsterblichen, und mein Auge reicht in jede Hütte, und ich schreite über die Leichen meiner Feinde immerdar.«
Anmerkung: Inschrift einer Stele, kopiert von der Elfe Valynwyn, die von Emerelle nach Iskendria verbannt wurde. Valynwyn entdeckte den Stein beim Erweitern der Kellergewölbe ihres Palastes. Die Stele war kaum beschädigt. Sie maß fast zwei Schritt in der Höhe. Das obere Drittel zeigt einen löwenhäuptigen König in archaischer Rüstung. Er hält ein Schwert in der Rechten. In der Linken das abgetrennte Haupt eines bärtigen Mannes, und er schreitet über die Leichen erschlagener Krieger.
Von Lügen und verlorenen Träumen
»… und ich schreite über die Leichen meiner Feinde immerdar.« Artax legte die Tontafel, von der er abgelesen hatte, auf den Tisch neben das Lager Mataans. Der Fischerfürst war immer noch schwach. Er erholte sich nur schleppend von den Verletzungen, die er im Kampf um den Steinhorst erlitten hatte. Doch für viele bei Hof galt es als ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte! Als man ihn in den königlichen Palast von Akšu gebracht hatte, war er mehr tot als lebendig gewesen. Seither lag er in einem großen, hellen Zimmer auf einem Bett mit roter Decke. Der Heiler, der in der Ecke stand und sie beobachtete, hatte erklärt, rote Decken seien gut bei Fieber. Sie würden helfen, das Gift aus dem kranken Körper zu schwitzen. Ebenso der Weihrauch, der tagein, tagaus in zwei flachen Kupferschalen neben dem Bett verbrannt wurde. Der Duft des bläulichen Rauchs machte Artax ganz benommen. Er mochte ihn nicht.
Mataan sah schlecht aus. Sein Gesicht war eingefallen, seine Adlernase ragte wie ein Messer empor. Artax zwang sich zu einem Lächeln, als könne er den schleichenden Tod aus dem Krankenzimmer fortlächeln. »Und? Was hältst du von der Wortwahl? Ich werde diese Worte in Stein meißeln lassen, auf einer Stele, die meinen Sieg auf der Ebene von Kush zeigt. In jeder Stadt des Königreiches soll eine solche Stele auf dem größten Markt aufgestellt werden.
»Auf den Marktplätzen werden Hunde an die Stelen pissen«, sagte Mataan matt.
Artax lachte leise. Er war erleichtert, sein Freund hatte sich noch nicht aufgegeben. Selbst jetzt hielt Mataan nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg. Ashot hätte seine Freude an ihm. Artax entschied, nicht viel auf die Worte des Fischerfürsten zu geben, und fuhr voller Enthusiasmus fort: »In jeder Stadt wird es Bauern geben, die reich werden, weil sie mir in Kush treu gedient haben. Ich werde die Landreform umsetzen. Die fruchtbaren Äcker werden gerechter verteilt werden. Und meine Mitstreiter werden darüber wachen, dass Gerechtigkeit herrscht. Sie werden in den Räten der Städte sitzen. Sie werden Macht haben!«
Mataan bedeutete ihm, sein Ohr nah an dessen Lippen zu bringen. Selbst zum Sprechen fehlte ihm inzwischen die Kraft.
»Ganz gleich, wie tapfer sie gekämpft haben, in dieser Schlacht können sie nicht siegen, Herr. Sie werden nur wenige in den Räten sein, umgeben von Männern, die Land und Einfluss an sie verloren haben und die ein ganzes Leben lang Erfahrung in den Intrigen und Winkelzügen des städtischen Geschachers sammeln konnten. Ihre Gegner stammen aus Familien, die seit vielen Generationen in den Räten sitzen. Eure Bauern werden dort untergehen, Herr. Das, oder sie werden so werden wie die alten Herren. Ihr müsst einen anderen Weg finden. Opfert sie nicht. Und überdenkt die Sache mit den Stelen. Ich erkenne Euch kaum hinter diesen Worten, Herr. Sie sind voller Härte und Grausamkeit.« Mataans Kopf sank zur Seite. Seine Kraft war erschöpft. Der Heilkundige neben dem Bett sah Artax nervös an, wagte es aber nicht, ihm zu sagen, dass es besser sei zu gehen.
Artax setzte sich auf. Die Stimmen der früheren Aarons hatten ihn beraten, als er den Text für die Stelen entworfen hatte. Er musste Härte zeigen! Mataan hatte immer noch Fieberschübe. Sich mit ihm zu beraten war nicht klug. Der Fischerfürst war im Augenblick nicht klar bei Verstand.
Der Unsterbliche klopfte sanft auf die Hand seines Kampfgefährten. »Ruh dich aus, mein Freund. Wir reden später, du musst zu Kräften kommen.«
Mataan hielt ihn mit seinem Blick gefangen. Er wollte noch etwas sagen, seine Lippen bebten. Es war wie vor zwanzig Tagen im Steinhorst. Nichts schien seitdem besser geworden zu sein. Immer noch stand sein Gefährte an der Schwelle des Todes, auch wenn die Pfeile längst aus seinem Fleisch geschnitten waren.
Artax wandte sich ab. Sofort trat der Heiler an ihn heran.
»Ihr müsst mit dem Kranken sprechen, mein Gebieter. Er bringt sich um! Er nimmt nichts anderes zu sich als dünne, scharf gewürzte Fischsuppe. Fische! Jedes Kind weiß, dass man einen Sud aus Fleisch mit eingerührtem Ei braucht, wenn man zu Kräften kommen will. Seht ihn Euch an, mein Gebieter. Bitte befehlt ihm zu trinken, was gut für ihn ist. Um etwas zu kauen ist er zu schwach …«