Artax betrachtete den Heiler missmutig. Es war ein feister junger Mann, dessen Hals halb hinter seinem Doppelkinn verschwand. Artax wünschte, Mataan hätte etwas von diesen Pfunden.
»Seht, wohin ihn sein Starrsinn gebracht hat«, bedrängte ihn der Heiler weiter. »Er hat schon die Farbe eines toten Fisches.«
Artax erinnerte sich noch gut, wie der Heiler Mataan nur noch ein paar Tage eingeräumt hatte, als er ihn zum ersten Mal sah. Das war noch vor den Siegesfeiern gewesen. »Er bekommt zu essen, was er gerne mag«, entgegnete er dem Dicken kurz angebunden und verließ die helle Kammer in Eile. Er konnte den Anblick seines Gefährten nicht mehr ertragen. Konnte den Weihrauch nicht mehr riechen, der in dünnen blauen Schleiern unter der Zimmerdecke hing.
Auf seinem Weg durch die langen Flure des Palastes begegnete Artax nur wenigen Dienern. Manchmal hörte er von ferne Musik. Das Fest, das er seiner Hauptstadt geschenkt hatte, dauerte noch an. In den Straßen wurde getanzt. Tausend Ochsen waren geschlachtet worden, Schiffsladungen von Wein hatte er verschenkt, und die besten Gaukler und Musiker gaben sich auf den Plätzen Akšus ein Stelldichein. Doch er war einsam.
Schweigend trat Artax auf die weite Terrasse bei seinen Privatgemächern, lehnte sich an die prächtigen, roten Säulen, die das Vordach aus Zedernholz stützten, und blickte nach Osten. Schwarze Rauchwolken stiegen vor den Mauern der Stadt auf, wo die Priesterschaft der geflügelten Sonne die Ochsen schlachtete und auf ihren Altären das Fleisch briet. Das Blut gehörte dem Löwenhäuptigen. Alles andere wurde an die Gäste des Festes verschenkt.
Es war ein schöner Spätsommerabend. Die sinkende Sonne umkränzte die Wolken mit einem rosa Flor. Die blasse Mondsichel stand schon am Himmel, obwohl die Sonne noch zwei Handbreit über dem Horizont thronte.
»Herr?«
Artax fuhr erschrocken herum. In der Tür zur Terrasse stand Ashot. Ein Weinfleck prangte auf der hellblauen Tunika seines Freundes. »Warum bist du nicht auf dem Fest?«
»Es gibt schlechte Nachrichten, Erhabener. Ich weiß nun, warum Eleasar die Frauen und Kinder mit zum Steinhorst nahm. Er wollte Euren Namen besudeln, Herrscher aller Schwarzköpfe.«
»Was ist daran neu? Das hatten wir doch schon befürchtet.«
Ashot seufzte. »Neu ist, dass wir nun wissen, was genau er getan hat. Vom Adlerpass hat er Boten in alle Provinzen geschickt. Sie verbreiten die Geschichte, dass er sich Eurer Gnade ergeben wollte und für das Leben seines Weibes und seiner Kinder bat. Auch für die anderen Frauen und Kinder im Heerlager hat er sich angeblich eingesetzt. Doch Ihr habt vermeintlich sein Ansinnen abgelehnt und geschworen, dass nicht nur die Verräter, sondern auch ihr gesamtes Gefolge sterben sollten. Daraufhin flohen Bessos und Eleasar zum Steinhorst. Ihr habt Euch unter dem Vorwand, noch einmal verhandeln zu wollen, Zugang zu dieser uneinnehmbaren Felsfeste verschafft. Ihr und Eure Begleiter hatten Waffen unter Euren Gewändern verborgen, und das Morden begann, kaum dass ihr durch das Tor getreten wart.«
»Auch wir haben unsere Boten geschickt«, entgegnete Artax gereizt. »Es werden immer Lügen über mich verbreitet werden. Das gehört zum Königtum wie die Krone.«
»Aber seine Boten sind früher losgeritten. Er hat sie schon geschickt, bevor er Bessos befreite. Er hatte alles vorausgeplant. Und er war ein beliebter Herrscher in seiner Provinz. Die Menschen glauben der Geschichte, die er verbreiten lässt. Wohin auch immer unsere Boten kommen, um den Sieg über Muwatta zu verkünden, seine Männer waren schon dort. Jetzt sieht es so aus, als wollten wir die Wahrheit verschleiern.«
Artax lachte auf. »So ist unsere Welt. Die Lüge wird zur Wahrheit, wird sie nur vehement genug vorgetragen. Sie wuchert wie Unkraut auf den Feldern und erstickt die Saat der Wahrheit.«
Wir sind stolz auf dich, Artax. Endlich begreifst du, was es heißt zu herrschen, meldeten sich seine inneren Stimmen zu Wort. Auch du kannst Lügen Wahrheit werden lassen. Du musst es nur wollen. Doch halte die Lügen einfach.
»Aber Unkraut kann man ausreißen!«, begehrte Ashot auf. »Jeder gute Bauer tut das. Und wenn unser Königreich Aram wie ein großes Kornfeld ist, seid Ihr dann nicht der gute Bauer, der es pflegen muss, Unsterblicher?«
Artax sah ihn lange an. Er wünschte, es wäre noch die Zeit, in der sie wirklich Bauern gewesen waren. In der sie nach dem Tag auf dem Feld zu dritt unter der Zeder beim Dorfbrunnen gesessen hatten, um über ihre Sorgen und Träume zu reden. Artax war zum mächtigsten Mann unter den Völkern der Menschen geworden. Und zum einsamsten. »Narek war ein guter Bauer, nicht wahr?«
Ashot sah ihn misstrauisch an, ganz so, als sei es ihm unheimlich, dass sein Herrscher so viel Interesse für einen toten Bauern zeigte. Es schmerzte Artax, dass sein Jugendfreund so vor ihm auf der Hut war – auch wenn Ashot nicht wissen konnte, mit wem er sprach. Artax sah ihn lange an. Im Gegensatz zu ihm hatte sich Ashot nicht verändert. Sein längliches Gesicht war wie immer unrasiert, sein dichtes, schwarzes Haar hing ihm in Strähnen in die Stirn. Er sah ganz und gar nicht aus wie ein Hauptmann der Leibwache eines Unsterblichen. Aber die Kushiten waren auch keine gewöhnliche Palastwache.
»Narek war in allen Dingen gut, die mit dem Herzen zu tun hatten«, sagte Ashot schließlich.
Artax nickte niedergeschlagen. Ashots Tiefe überraschte ihn. Besser konnte man Narek wohl kaum umschreiben. Er war nie der Fleißigste gewesen, hatte keinen Ehrgeiz gehabt, außer ein guter Vater, Ehemann und Freund zu sein. Er hatte sich immer bemüht … war immer aufrichtig gewesen. Er war der beste Freund, den er je gehabt hatte.
»Magst du mir von Narek erzählen?«
»Aber was machen wir gegen die Lügen Eleasars? Wisst Ihr, welchen neuen Namen Euch das Volk gegeben hat? Blutkönig!«
»Wir werden Taten gegen Lügen setzen, Ashot. Und ich werde versuchen, mich an deinen Vergleich zu erinnern. Es ist egal, was ich tue – so wie das Unkraut nachwächst, werden sich auch ständig neue Lügen um mich ranken. Ich werde Stelen in den Städten aufstellen, die mich als machtvollen und siegreichen König zeigen, und ich werde schon bald damit beginnen, das Reich zu bereisen. Ich will dort sein, wo die armen Bauern ihr Land bekommen, will den Räten auf die Finger sehen und die Satrapen daran erinnern, dass das Auge des Unsterblichen bis in den letzten Winkel Arams blickt. Ich werde allen mein wahres Gesicht zeigen. Ich hoffe, dies wird die Lügen besiegen. Für dich und die Kushiten wird es endlose Märsche bedeuten. Ich werde kein Palastkönig sein. Mich soll das Volk gesehen haben.«
Ashot lächelte schief. »Die Männer beginnen ohnehin, faul zu werden und Fett anzusetzen. Ein wenig Bewegung wird ihnen guttun. Und was mich angeht … Ihr wisst, ich war ein Bauer. Zur Erntezeit, wenn wir die Hirse geschnitten haben, habe ich mich so oft gebückt, dass ich abends meinen Rücken kaum noch gerade bekommen habe. Ein bisschen Staub auf der Straße schlucken ist im Vergleich dazu wie Honigkuchen essen.«
»Da ich demnächst für eine staubige Kehle sorgen werde, möchte ich dich jetzt auf einen Becher Wein einladen.« Artax deutete in sein Zimmer. »Es ist kein besonderer Tropfen. Ein wenig sauer. Er kommt aus Apamei.«
»Apamei?« Ashots Lächeln verging.
»Überrascht, dass ein Unsterblicher billigen Wein trinkt?«
»Nein, das ist es nicht …« Der Blick des Hauptmanns war in sich gekehrt. »Es ist nur … solchen Wein habe ich in meinem Dorf in Belbek getrunken. Selten, denn wir waren arm. Er erinnert mich an einige gute Abende.«
»Lass uns auf die Toten trinken. Auf verlorene Freunde, deren Andenken nicht sterben darf und denen wir die goldene Zukunft schulden, von der sie nur träumen konnten.« Artax verließ die Terrasse und trat in sein Zimmer, bemüht, die Berge von Tontafeln zu übersehen. Er hatte angefangen, sie an den Wänden entlang zu stapeln. Er würde ihnen nur entgehen, wenn er den Palast verließ.